100 Jahre Walter Gotschke: „Ich zeichne Autos“

Walter Gotschke wurde am 14. Oktober 1912, also vor 100 Jahren, als sechstes von sieben Kindern eines Schmiedemeisters in Bennisch im damaligen Österreichisch-Schlesien geboren. Leider ist die Vita des legendären Pressezeichners weitgehend unbeachtet.

Sein Lebenswerk kann niemand besser als seine heutige Witwe Gerhild Drücker-Gotschke beschreiben: Trotz allem, der Versuch einer Hommage an einer Künstler, der über Jahrzehnte das Genre des Presszeichners prägte.

1947 begann in Bregenz zum zweiten Mal die sogenannte Festwoche. Am westlichsten Punkt Österreichs, wo sich der eidgenössische Wohlstand der neutral gebliebenen Schweiz mit dem gedrückten Lebensstandard eines durch den zweiten Weltkrieg heimgesuchten Landes berührte, konnten Festspielgäste einen etwa Mann bei einer eigentümlichen Beschäftigung beobachten.

In Kauerstellung umkreiste er parkende Personenwagen mit dem Länderzeichen CH und beobachtete sie aus den merkwürdigsten Perspektiven. Diese Autos hatten alle eine einheitliche sie verbindende Eigenschaft: es waren ausschließlich amerikanische Modelle. Und als er wieder so da saß, mit zugekniffenem Auge die Chromleiste eines Cadillacs entlang spähend, konnte einer von ihnen nicht umhin, ihn zu fragen: „Verzeihung – aber was tun Sie eigentlich hier?“ Der Angesprochene erhob sich, klopfte den Staub von seinem Trenchcoat und antwortete kurz: „Ich zeichne Autos“. Es war Walter Gotschke, den die Wirren des Krieges in diese Gegend verschlagen hatten.

Walter Gotschke noch zu Lebzeiten rückblickend: Soweit er zurückdenken könne, immer habe er wie besessen gezeichnet. Seine ganze Kindheit sei vom Zeichnen erfüllt gewesen. Wo er ging oder stand habe er gezeichnet. Zuerst Tiere. Stehende, sitzende, springende Pferde, Schafe, Ziegen oder Hunde. In seines Vaters Schmiede waren – aus Ermangelung an Stiften und Papier – sämtliche zum Verkauf hergestellten Ackergeräte mit Kreide bemalt, im Kindergarten und in der Schule sämtliche Papiere und Hefte bis ins letzte Eckchen hinein voll gekritzelt.

„Als ich dann – ich war etwa zehn Jahre alt – zum ersten Mal in meinem kleinen schlesischen Heimatdorf ein Auto stehen sah, da war ich einfach weg. Ich starrte dieses höchst unmoderne Ding wie verzaubert an. Ich spitzte meinen Bleistift und von nun an füllten Autokritzeleien meine Schulhefte. Es war Autosuggestion im wahrsten Sinne des Wortes“. Seine anfängliche kindliche Spielerei wurde zur Liebhaberei und mit der Zeit zur unbändigen Leidenschaft.

Aus weiter Ferne – die berühmten Juneks mit ihren Bugatti-Siegen aus dem nahegelegenen Prag waren gerade in aller Munde – drangen exotische Namen in sein entlegenes Dorf: Targa Florio – Alfa-Romeo – Maserati – Minoia – Brilli Peri – Monthlery – Delage – Divo – und so weiter. Es trieb ihn in die Stadt, nach Brünn, um Architektur zu studieren, in Wahrheit wohl, um dem Auto nahe zu sein. Er konnte nicht ahnen, wie bald schon vor den Toren dieser Stadt eines der schönsten Autorennen stattfinden würde. Auf Landstraßen, durch die Dörfer. Wie eine kleine Targa Florio oder Mille Miglia: der Große Masaryk-Preis.

Hier in Brünn als Architekturstudent erlebte er seine ersten heimatlichen Autorennen, und er war kaum siebzehn, als die Tagespresse 1929 seine Rennskizzen vom Ecce-Homo Bergrennen publizierte – die erste Veröffentlichung seines Lebens. Zwei Jahre später bereits kündigte den Großen Preis der Tschechoslowakei sein Straßenplakat an. Nun, mit neunzehn Jahren, hatte er überall Zutritt, konnte die gesamte Rennprominenz aus nächster Nähe beobachten und ihre Rennwagen in allen Perspektiven erfassen.

Der Große Masaryk-Preis der Tschechoslowakei bildete immer den Abschluss der Saison und die gesamte Weltelite trat an. Und hier war Walter Gotschke, der inzwischen sein Studium abgeschlossen hatte und den kein Mensch kannte, in seinem Element. Als er Anfang 1938 sein Land verließ, um in Deutschland zu arbeiten, hatte sich der ganze Modellwechsel zweier Epochen fest in seinem Gedächtnis eingebrannt. Auch kannte er Körperhaltung und Fahrstil eines jeden Rennfahrers ganz genau.

„Vor dem Krieg hatte ich das Glück, bei Daimler-Benz in Stuttgart als Grafiker beschäftigt zu werden,“ so Gotschke. „Es war eine interessante Aufgabe, nach den Blaupausen der Techniker die neuen Autotypen, bevor sie überhaupt auf den Markt kamen, in verführerischer Schönheit und zugleich mit technischer Gewissenhaftigkeit dem Publikum vorzustellen. Zu meinem Aufgabengebiet gehörte auch die Gestaltung der Werbeplakate von den großen internationalen Rennen. Diese Plakate wurden im Voraus gezeichnet und gedruckt, noch ehe der erste Motor auf der Rennstrecke losheulte. Kaum war das Rennergebnis bekannt, wurde in einem raffinierten Verfahren der den Sieg verkündende Text eingedruckt und dem erfolgreichen Wagen seine Startnummer verpasst. So war es möglich, dass am nächsten Morgen schon die Mercedes-Siegerplakate mit der authentischen Startnummer in allen europäischen Hauptstädten von den Wänden leuchteten“.

Das Glück bei Daimler-Benz währte nur drei Jahre. 1941 wurde Walter Gotschke zum Kriegsdienst eingezogen. Auf Wikipedia ist darüber nach zu lesen:

„Im Auftrag der Zeitschrift Signal begleitete er als Sonderführer der Propaganda-Kompanie von Juli bis Oktober 1941 ein Panzerregiment im Unternehmen Barbarossa bis nach Leningrad, um zeichnerisch darüber zu berichten. 1942 erhielt er den Carl-Schnebel-Preis für die beste Kriegs-Pressezeichnung des Jahres. Ab November 1942 zeichnete Walter Gotschke auftragsgemäß in Südfrankreich, unter anderem im Kriegshafen von Toulon die Selbstversenkung der Vichy-Flotte und in Marseille die Demontage der französischen Flotte sowie die „Säuberung der Altstadt“. 1943 stellte der A. Daehler-Verlag im Auftrag des OKH zum „Geburtstag des Führers“ eine Mappe mit Gotschke-Originalzeichnungen vom Russlandfeldzug zusammen. Bei der Überreichung fragte Adolf Hitler nach dem Künstler, woraufhin Gotschke per Depesche von Frankreich nach Deutschland zurückgeordert wurde. Aufgrund der sich verschärfenden Kriegsereignisse kam es nicht zum Treffen; Gotschke wurde von Generaloberst Guderian empfangen, der ihn zu den Panzertruppenschulen versetzte.“

Durch die Verlegung dieser Dienststelle kurz vor Ende des Krieges gelangte Gotschke nach Tirol in Österreich, das damals für einige Jahre dem Deutschen Reich angegliedert war.

1945, nach Kriegsende, war er für kurze Zeit in amerikanischer Gefangenschaft: „Man hätte nicht einmal in einer Felsspalte verschwinden können, sie fanden einen überall“. Anschließend verdiente er sich seinen Lebensunterhalt als Kuhhirte bei österreichischen Bauern. Doch es dauerte nicht lange, da erschienen seine Kuh- und Bergskizzen in der »Tiroler Tageszeitung« – und schon hatte Daimler-Benz ihn erneut kontaktiert und mit Werbezeichnungen beauftragt.

1949 kehrte Walter Gotschke nach Stuttgart zurück, wo er eine atemberaubende Produktivität für die damalige Daimler-Benz AG entfaltete. Zum Verhängnis wurde ihm dann allerdings eine Publikation in der Zeitschrift „Das Auto“. 1951 erschien ein von ihm durch die Formgebung der amerikanischen Autos inspirierter Artikel „Automobilarchitektur – Eine fast zu späte Betrachtung der Formprobleme im Automobilbau“. Der Konzernvorstand empfand den Artikel als öffentliche Kritik am Design seiner Fahrzeuge und stornierte alle weiteren Aufträge. Diesen Rückschlag fing Ford Deutschland in Köln auf: Sie verpflichteten ihn im Folgejahr als Grafiker für die Werbedrucksachen des neuen Taunus 12M, dem legendären Weltkugel-Modell.

Aber auch andere Auftraggeber gab es zu diesen Zeiten. Branchenexklusivität konnte Gotschke immer abwenden. Um nur ein paar zu erwähnen: Austin, Fiat, Goodyear, Kässbohrer, MAN, Maybach, Nissan, Shell oder Volkswagen. Seine Werke sind heute alles Zeitzeugen eines extrem erfolgreichen rastlosen Wirkens.

Anekdote am Rande. Der SPIEGEL berichtete im März 1959: Walter Gotschke, 46, bekannter Werbezeichner für Automobilfirmen, pflegt neuerdings Honorarangebote, die ihm zu niedrig erscheinen, auf Toilettenpapier mit der Aufschrift „Über Ihre Trinkgelder ein lautes Gelächter“ zu beantworten.

Soweit es seine Termine erlaubten besuchte er darüber hinaus Autorennen, um diese in Automagazinen zeichnerisch zu dokumentieren. Anfang der 1960er-Jahre und der zunehmenden Verwendung von Photos schwand die Bedeutung von Zeichnungen. Auch hier fand Gotschke eine Lösung: Aus seinem Hobby machte er seinen letzten Beruf. Aktuelles und Historisches, bis zu den Anfängen des Automobils, wurden von ihm der Nachwelt erhalten. Weltbekannte Magazine wie Motor Revue, Quattro Ruote, Sports Illustrated, Road & Track, Auto, Motor und Sport und andere veröffentlichten seine Werke. Bis zuletzt gehörte er auch zu den ständigen Mitarbeitern des amerikanischen Luxusmagazins Automobile Quarterly.

1976 starb seine Frau Erika Gotschke an Magenkrebs. 1981 heiratete Walter Gotschke seine Nichte Gerhild Drücker.

1984 gerade vom Dallas Grand Prix zurück und im Begriff für Automobile Quarterly die Jubiläumsgeschichte „100 Jahre Mercedes“ abzuschließen, kam der nächste Schicksalsschlag: Sehstörungen auf dem rechten Auge. Das linke war schon etliche Jahre zuvor durch einen leichten Schlaganfall erblindet. Das Folgejahr verbrachte er fast komplett in Kliniken, wo man sein Augenlicht aber nicht retten konnte. Seine letzten fünfzehn Lebensjahre verlebte er in völliger Blindheit auf dem Lande im Süden Deutschlands. Am 28. August 2000 verstarb Walter Gotschke. Dieser geniale Zeichner von internationalem Rang, der auf seinem Gebiet weder Lehrer noch Vorbilder kannte und sich das Zeichnen und Malen selbst beibrachte, hatte sich ausgerechnet mit dem Auto einen Traumberuf geschaffen.

Sein Lebenswerk wird bis heute von seiner zweiten Ehefrau, Gerhild Drücker-Gotschke, gehegt und gepflegt. Mit ihrer EDITION AUTOMOBILE bietet sie sowohl für den Gotschke- als auch für den Auto-Kunst-Liebhaber ein breit gefächertes Programm an. Details dazu unter www.gotschke-art.com .

Die Sternenmaler – Mercedes-Benz Werbung aus einem Jahrhundert

Das Genre des Pressezeichners hatte seine Hochkonjunktur mit dem Aufkommen der Tages- und Zeitschriftenpresse. Gerade die Darstellung des Automobils war eine willkommene Aufgabenstellung. Was heute als Kunstwerk betrachtet wird, sollte damals in erster Linie der Darstellung des Automobils dienen. Das Buch „Die Sternenmaler“ fasst die besten Werbezeichnungen prominenter Vertreter wie zum Beispiel Walter Gotschke, Hans Liska oder Theo Matejko zusammen. Nicht nur Sammler und Mercedes-Liebhaber werden sich auf diese bisher konkurrenzlose Reise in die Vergangenheit freuen. Erschienen im Motorbuch Verlag (196 Seiten, 25 sw-Abbildungen, 175 Farbabbildungen, ISBN 978-3-613-02864-7).