- Transporter und Omnibus runden das Produktprogramm mit leichten Nutzfahrzeugen ab
- Zwischen 1955 und 1968 sind beide Marktführer
- Sparsame Dieselmotoren setzen sich bei Gewerbetreibenden durch
- Das Frontdesign mit Zügen auch des 300 SL „Gullwing“ weckt bis heute viele Sympathien
Mitten im steilsten Aufschwung des deutschen Wirtschaftswunders präsentiert Mercedes-Benz 1955 vor 65 Jahren ein vielseitiges Talent mit Stern: Der Transporter L 319 und der kompakte Omnibus O 319 treffen perfekt den Bedarf von Gewerbetreibenden aller Branchen und Hilfsdiensten. In der Produktionszeit bis 1968 steigt die in vielen Varianten hergestellte Baureihe 319 zum Marktführer ihrer Klasse auf. Heute setzt der Sprinter, mittlerweile in der dritten Generation auf dem Markt, die damals begründete Nachkriegstradition mit einem breiten Angebot von Fahrzeugvarianten fort.
Vorstellung auf der IAA 1955: Die Präsentation des L 319 und O 319 auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main vom 22. September bis 2. Oktober 1955 führt die damalige Daimler-Benz AG in eine neue Klasse des Nutzfahrzeugbereichs. Die unter der Leitung von Hermann Ahrens und Eugen Stump konstruierten und entwickelten Fahrzeuge schließen zwei wichtige Lücken im Produktangebot: Es sind Lieferwagen und Leichtlastwagen der Klasse von ein bis zwei Tonnen Nutzlast und Kleinomnibusse mit bis zu 18 Sitzen (ohne Fahrer).
Deutschland im Jahr 1955: Es ist das bis dahin wirtschaftsstärkste Jahr der noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Das Bruttoinlandsprodukt steigt um 12,1 Prozent, und von Mai 1954 bis Mai 1955 wächst der Durchschnittslohn westdeutscher Industriearbeiter von 1,65 DM je Arbeitsstunde auf 1,76 DM. Das bedeutet sechs Prozent mehr Geld in der Lohntüte. Die Deutschen reisen wieder – Italien steht in der Beliebtheit hoch oben. Mit diesem Land wird auch das erste Anwerbeabkommen unterzeichnet und viele „Gastarbeiter“ werden willkommen geheißen. Und Bundeskanzler Konrad Adenauer fährt den Mercedes-Benz 300 (W 186), der fortan den Spitznamen „Adenauer“ trägt.
Mercedes-Benz im Jahr 1955: Vor 65 Jahren deckt die Marke bis auf Zweiräder jedes Segment auf dem Kraftfahrzeugsektor ab. Zum ersten Mal durchbricht das Unternehmen beim Umsatz die Milliarden-DM-Grenze. In den Vereinigten Staaten gründet es die Daimler-Benz of North America mit Sitz in New York. Der 190 SL (W 121) kommt auf den Markt. Der Motorsport bringt dem Unternehmen weltweit Schlagzeilen: Juan Manuel Fangio wird auf dem Silberpfeil W 196 R Formel-1-Weltmeister. Außerdem gewinnt der 300 SLR (W 196 S) nicht nur berühmte Rennen, sondern mit Fahrern wie Stirling Moss, Juan Manuel Fangio, Peter Collins und Karl Kling insgesamt die Sportwagen-Weltmeisterschaft. Es ist rundum ein starkes Jahr.
Die Vorgeschichte von L 319 und O 319: Im August 1949 bringt Generaldirektor Dr. Wilhelm Haspel das Thema „1 to. Diesel-Lkw“ als Punkt auf die Tagesordnung einer Vorstandssitzung. Er erkennt, dass sich ein Dieselmotor aus der Pkw-Produktion mehrgleisig verwenden lässt, etwa in einem Pritschenwagen, Krankenwagen oder auch Landpostwagen. Unter der Ägide von Entwicklungschef Dr. Fritz Nallinger beginnen am 19. Juli 1951 die Tests mit einem Versuchswagen bei einer Nutzlast von 1,5 Tonnen. Dieser Prototyp hat noch einen konventionellen Rahmen mit Starrachsen vorn und hinten sowie Schraubenfedern und Teleskopstoßdämpfern. Doch die Ingenieure konstruieren das Fahrzeug zwischen 1951 und 1954 völlig neu. Anders als von Generaldirektor Haspel originär vorgesehen, verschiebt sich daher das ursprünglich für die erste IAA nach dem Zweiten Weltkrieg vorgesehene Debüt im Jahr 1951 auf die Messe des Jahres 1955.
Die Konstruktion: Eine wirtschaftliche Fahrzeugproduktion ist ein Kernpunkt des Lastenhefts. So stammen Motoren, Getriebe und Lenkgetriebe aus dem Pkw-Programm. Früh fällt die Entscheidung auf die raumsparende Bauart als Frontlenker. So ist ein Ladevolumen von 8,6 Kubikmetern beim Kastenwagen auf einer Länge von nur 4,80 Metern möglich. Wie der Heckmotor-Omnibus O 321 H verfügt die Baureihe 319 über einen Fahrschemel und einen Aufbau mit verschweißtem Leiterrahmen als selbsttragende Karosserie. Motor, Getriebe, Lenkung, die starre Vorderachse mit Längsblattfedern, Drehstabstabilisatoren und nach hinten geneigten Teleskopstoßdämpfern sind mit dem Fahrschemel verbunden, der an vier Punkten elastisch mit der Bodengruppe verschraubt ist. Hinten kommt eine starre Banjoachse mit Blattfedern und ebenfalls geneigten Teleskopstoßdämpfern zum Einsatz. Bei zunehmender Belastung unterstützen Schraubenfedern die Blattfedern. Der Radstand wird mit 2.850 Millimetern festgelegt.
Mehr Nutzlast und eine neue Modellbezeichnung: Ab 1963 gibt es den Pritschenwagen zusätzlich auch mit einem Radstand von 3.600 Millimetern, was dann auch Ausführungen mit Doppelkabine oder einer vier Meter langen Pritsche ermöglicht. Die Nutzlast erhöht sich zu diesem Zeitpunkt über den Einsatz verstärkter Bremsen und Federn von 1,75 auf zwei Tonnen. Ebenso ändert sich die Modellbezeichnung, der Benziner heißt jetzt L 407 und die Dieselvariante L 405. Aus den neuen Bezeichnungen lassen sich Gewicht und Leistung ablesen: Der eine Viertonner-Transporter hat 70 PS, der andere 50 PS. Diese Nomenklatur wird für viele Jahrzehnte zum Standard für alle Nutzfahrzeuge von Mercedes-Benz.
Erst der Diesel: Bei kleineren Transportern hat sich der Dieselmotor in den Nachkriegsjahren noch nicht durchgesetzt. Das ändert sich mit dem L/O 319. Ab Produktionsbeginn im August 1956 gibt es ihn zunächst ausschließlich als sparsamen Selbstzünder L/O 319 D. Die Nutzfahrzeuge haben den 1,8-Liter-Vierzylinder OM 636 mit hängenden Ventilen und 32 kW (43 PS) aus den Personenwagentypen 170 D und 180 D. Als Verbrauch werden für den Transporter 9,2 Liter Dieselöl auf 100 Kilometer genannt, und die Höchstgeschwindigkeit beträgt 80 km/h. Ab Herbst 1961 ersetzt ihn der modernere, neu konstruierte Zweiliter-Vierzylinder OM 621 mit 37 kW (50 PS) aus dem 190 D. Es ist der erste Großseriendieselmotor dieser Hubraumklasse mit oben liegender Nockenwelle. 1965 wird die Leistung auf 40 kW (55 PS) erhöht.
Der Benziner folgt: Ab Februar 1957 beginnt die Produktion der zusätzlichen Versionen mit dem Vierzylinder-Ottomotor M 121 mit oben liegender Nockenwelle und 48 kW (65 PS) aus dem Personenwagentyp 180. Die Werksangaben nennen einen Verbrauch von 14,2 Litern Benzin je 100 Kilometer und eine Höchstgeschwindigkeit von 95 km/h. Ab Herbst 1961 beträgt die Motorleistung 50 kW (68 PS), ab 1965 sind es 59 kW (80 PS). Die Ottomotor-Ausführungen werden gern dort eingesetzt, wo bei geringeren Laufleistungen die besseren Fahrleistungen zählen. In dieser Ausführung bestellen beispielsweise viele Feuerwehren den L 319.
Variationen: L 319 und O 319 sind mit verschiedenen Aufbauten lieferbar, „so dass für alle Transportaufgaben in Handel, Gewerbe und Industrie ein Fahrzeug ‚nach Maß‘ zur Verfügung steht“, wie es in der Verkaufsbroschüre heißt. Dementsprechend ist der zunächst in Sindelfingen und später in Düsseldorf produzierte kleine Lastwagen 1956 als Kastenwagen mit Drehtüren oder Schiebetüren, als Pritschenwagen mit Gestell und Plane oder auch als Lieferwagen mit offenen Seiten zu haben. Bei dieser letztgenannten Variante werden die Öffnungen mit Planen verschlossen. Diese können als Markisen aufgestellt werden – ideal für den Einsatz als Marktverkaufswagen. Der O 319 wird für den Berufsverkehr mit 18 Sitzplätzen angeboten, als Reisebus mit 17 Sitzplätzen und als sogenannter Luxusbus mit zehn Sitzplätzen. Den O 319 beschreibt der Prospekt unter dem Stichwort Bequemlichkeit so: „Mit angenehmen Polstersitzen, der vorbildlichen Lüftung und Heizung, den großen Rundblickfenstern und dem Schiebedach reicht seine Ausstattung von sinnvoller Zweckmäßigkeit bis zum großen Komfort.“
„Sehr sympathisch, diese Front“: Aussagen wie diese fallen auch heute noch beim Blick auf Fahrzeuge der Baureihe 319. Nach den strengen Linien vieler Nutzfahrzeuge der Vorkriegsproduktion erarbeiten die Designer in den 1950er-Jahren für die neuen Frontlenkerfahrzeuge eine andere Formgebung mit Parallelen zu den Personenwagen der Marke. Dem L/O 319 kommt ebenso wie dem im Jahr 1954 vorgestellten Omnibus O 321 H die Vorreiterrolle zu. Dieses Gesicht wird für Jahrzehnte im Alltag auf der ganzen Welt insbesondere über die Nutzfahrzeuge zum Botschafter der Marke Mercedes-Benz.
Marktpositionierung: Die Baureihe 319 schließt eine Lücke zwischen den Fahrzeugen von Mitbewerbern und dem größeren Mercedes-Benz L/O 3500. Das gelingt ihr äußerst erfolgreich: Beim Produktionsende im Jahr 1968 sind L 319 und O 319 Marktführer. Zunächst in Sindelfingen gefertigt, wechselt der Produktionsstandort 1962 nach Düsseldorf. Dort ist bis heute das Leitwerk für die Transporter des Konzerns und Heimat des Sprinters. Direkter Nachfolger des 319 ist der T2 (1967 bis 1996), genannt „Düsseldorfer Transporter“. Der in Norddeutschland gebaute Transporter TN debütiert 1977. Zur Unterscheidung vom größeren T2 wird er meist als T1 bezeichnet – oder nach seinem ersten Produktionsort „Bremer Transporter“ genannt. 1995 löst der Sprinter den TN ab.
Kritikerlob: Das Magazin „das Auto Motor und Sport“ urteilt in Heft 20/1955 über den neuen kleinen Omnibus von Daimler-Benz: „In vielen Punkten vorbildlich modern, in anderen wiederum sehr, sehr traditionell, stellt der O 319 weniger eine technisch als wirtschaftlich interessante Lösung dar, der man guten Erfolg nicht zu wünschen braucht, sondern ziemlich sicher voraussagen kann.“ Das Fachjournal „Last-Auto und Omnibus“ beschäftigt sich in Heft 3/1957 intensiv mit dem O 319: „Straßenlage, Federung, Lenkung, Sicht und vieles andere haben unseren ausgesprochenen Beifall gefunden. Insgesamt gesehen, können wir hier ein Personenfahrzeug vorstellen, das weitaus mehr Vorzüge in sich vereinigt, als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Wer mit dem O 319 D fleißig schaltet – und das macht bei der wirklich leichtgängigen Lenkradschaltung direkt Spaß – der erreicht noch Durchschnittsgeschwindigkeiten, die sich in jedem Falle sehen lassen können. So haben wir mehrmals auf normalen Straßen allerdings ohne Steigungen, über Distanzen über 300 km Durchschnitte von 50 bis 60 km/h spielend herausgefahren. Man kommt mit dem Diesel gar nicht so langsam vorwärts, wie das zunächst anzunehmen ist.“