Eigentlich galt sie längst als verschrottet, dies wurde jedenfalls so in jedem Fachbuch publiziert, wenn es irgendwie um das Thema Mercedes- Pagode ging. Es wurde ihr jenes Schicksal nachgesagt, was in den Jahren zuvor schon verunfallte 300 SL-Rennwagen vom Typ W194, die 300 SL-Vorserienwagen des W198, die beiden O`Shea 300 SLS-Rennversionen des Roadsters von 1957 und später auch den berühmten Mercedes-Renntransporter aus den 50iger Jahren ereilt hat.
Bei der Böhringer-Pagode handelt es sich um den legendären Rallyewagen von 1963, mit dem Eugen Böhringer und Klaus Kaiser 1963 das unglaublich materialzehrende Langstreckenrennen Spa-Sofia-Lüttich in 92-stündiger Non-Stop-Fahrt noch vor der Markteinführung des neuen 230SL gewannen. Die Rallye startete in Spa in Belgien und führte die 119 Teams über eine Distanz von 5500 km durch Deutschland, Österreich, Italien und Jugoslawien bis nach Sofia in Bulgarien und wieder zurück nach Lüttich in Belgien. Die Fahreigenschaften des neuen SL waren sehr gutmütig, das Auto war leicht zu fahren, nur der Geradeauslauf war wegen des kurzen Radstandes nicht so gut wie bei den rallyeerprobten Heckflossen-Limousinen. Deswegen wurde der Wagenbei den Fahrern auch „Tänzer“ genannt. Eugen Böhringer verlieh mit seinem grandiosen Sieg dem 230 SL jenen sportlichen Nimbus, den diese Neuschöpfung nach Auslaufen des so erfolgreichen 300 SL so bitter nötig hatte. Der 300 SL hatte zahlreiche Rennsporterfolge vorzuweisen und begründete damit seinen bis heute ungebrochenen Mythos. Der „neue“ SL sollte nun den fast unmöglichen Spagat vollbringen, jenes Klientel sowohl des ausgelaufenen 300 SL als auch das des auch nicht mehr produzierten kleinen Bruders 190 SL zufrieden zu stellen – ein eigentlich unmögliches Ansinnen. Ein dem Nachfolger vorauseilender Ruf als „zahmes Damenauto“ würde ein großer sportlicher Erfolg als Nachweis auch rennsportlicher Tugenden ohne Frage äußerst gut zu Gesicht stehen. Andererseits war die Angst, mit einem noch nicht einmal richtig vorgestellten Auto zu verlieren, natürlich äußerst groß. Eugen Böhringer und der damalige Rennleiter Karl Kling konnten jedoch Chefingenieur Prof. Dr. Nallinger davon überzeugen, dass der neue kurze und wendige 230 SL für die kurvigen italienischen und jugoslawischen Bergetappen der berühmten Spa-Sofia-Lüttich Rallye eigentlich besser geeignet sei als jene wuchtige 220 SE- Heckflosse, mit der Eugen Böhringer ja dieses Rennen im Vorjahr (1962) zusammen mit Hermann Eger schon gewonnen hatte. Problem war nur, dass es dieses Auto eigentlich noch gar nicht gab.
So musste also der Vorstand bei der ersten Präsentation auf dem Genfer Automobilsalon im März 1963 erst „mühselig“ davon überzeugt werden, dass der Rallyeeinsatz doch ein genialer Schachzug zur Markteinführung des nagelneuen 230 SL sein könnte. „Da hat der Nallinger im Vorstand noch a bissle g‘schobe“, so erinnert sich Eugen Böhringer. Am 25. März 1963 beantragte Prof. Dr. Nallinger dann drei 230 SL für die Entwicklung. Von diesen drei Vorserienautos war ein Fahrzeug , und zwar die Fahrgestellnummer 0014, für den Einsatz bei der Rallye Spa-Sofia-Lüttich vorgesehen. Dieses wurde für den harten Rallyeeinsatz entsprechend modifiziert. Wie Recht Rennleiter Karl Kling und Eugen Böhringer mit ihrer Wahl des richtigen Renngefährts behalten sollten, brachte der 31. August 1963. Mit einem Sieg nach Maß bei dem berüchtigten Langstreckenrennen, bei dem lediglich 21 Teams ins Ziel kamen, verhalf Eugen Böhringer mit seinem Beifahrer Klaus Kaiser dem taufrischen SL zu jenem rennsportlichen Lorbeer , der der Vermarktung der neuen Baureihe so richtig gut entgegenkam. Es wurde ein Sieg so ganz nach dem Geschmack von Mercedes-Benz, gerade rechtzeitig zur Deutschland- Premiere des neuen 230 SL auf der IAA in Frankfurt im September 1963. Dort wurde das Siegerfahrzeug noch mit seinem original Rallyedreck neben dem chromblitzenden nagelneuen Mercedes 600 publikumswirksam präsentiert. Anbei gleich die Frage in die Runde unserer Leserschaft: Hat jemand von der Präsentation des Siegers auf der IAA evtl. Bilder? Wenn ja, würden wir uns sehr über eine Zusendung freuen Info@MVConline.de .
2012 nun , pünktlich zum 60jährigen SL-Jubiläum und auch zum 90. Geburtstag von Eugen Böhringer ist jene geschichtsträchtige „Pagode“ , wie dieser SL wegen seiner ungewöhnlichen Dachform genannt wird, nun wieder aufgetaucht.
Aufgeklärt werden konnte die wahre Identität der original Böhringer-Pagode von 1963 schließlich erst mit Hilfe des noch äußerst rüstigen, heute 81-jährigen Erich Waxenberger, jenem damaligen Versuchsingenieur, der bei Mercedes-Benz für den Aufbau der Rallyewagen verantwortlich zeichnete.
Die Böhringer-Pagode läutete den großen Erfolg der ganzen Baureihe ein, sie wurde als 230 SL, 250 SL und schließlich als 280 SL von 1963 bis 1971 in einer Stückzahl von insgesamt 48 912 Fahrzeugen produziert.