Am 29. August vor 125 Jahren wurde das erste Motorrad der Welt zum Patent angemeldet. Damals, 1885, hieß es aber noch „Reitwagen“ und versetzte Passanten in Angst und Schrecken. Der Inhaber des Patetes hieß Daimler und hier zeigen wir die Geschichte einmal auf.
Im Jahr 1882 kamen Gottlieb Daimler und sein genialer Weggefährte Wilhelm Maybach nach Cannstatt bei Stuttgart. Differenzen zwischen dem fünfzigjährigen Nikolaus August Otto und dem zwei Jahre jüngeren Daimler hatten die Trennung von der unmittelbar bei Köln gelegenen Gasmotorenfabrik Deutz herbeigeführt. Daimler, inzwischen vermögend, machte sich selbständig.
Für 75 000 Goldmark kaufte er in Cannstatt eine Villa in der Taubenheimstraße und zog im Juni 1882 mit seiner Frau Emma und den fünf Kindern dorthin. Das Anwesen war ideal für ihn: Nicht nur in unmittelbarer Nähe zu den Kuranlagen gelegen, die Daimler zur Behandlung seiner Herzschwäche regelmäßig aufsuchte, sondern auch mit einem großen Garten und einem geräumigen Gewächshaus versehen. Dieses ließ er um einen Anbau erweitern und mit Gas- und Wasseranschlüssen ausstatten: Die Versuchswerkstatt war fertig.
Anfang Oktober traf auch Maybach in Cannstatt ein. Er zog in die Nähe und richtete zunächst ein Zimmer der Wohnung als Konstruktionsbüro ein. Dort stand das Reißbrett, auf dem er die Ideen Daimlers in technische Zeichnungen umsetzte: Maybach gab ihnen gekonnt eine zweckmäßige Form. Daimler wusste nur zu gut, was er an diesem Techniker hatte, und der Vertrag, den beide noch vor ihrem Weggang in Deutz geschlossen hatten, zeigt dies aufgrund der Höhe der garantierten Zahlungen an Maybach.
Beide hatten zum Ziel, einen kleinen und leichten schnelllaufenden Benzinmotor zu entwickeln, der vor allem für den Fahrzeugantrieb geeignet wäre. Damit waren sie nicht allein. Überall auf der Welt wurde an dieser Idee gearbeitet.
Eins hatten Daimler und Benz bereits zu diesem Zeitpunkt gemeinsam, ohne voneinander zu wissen: Sie fassten Benzin als Treibstoff für ihre Motoren ins Auge und sollten schließlich die ersten sein, die das umsetzen konnten. Die Entscheidung für diesen Treibstoff mit seiner guten Zündbarkeit war eine wichtige Grundlage für ihre Fahrzeug-Verbrennungsmotoren.
Eine zweite Engstelle in der Motorentechnik war das Zündsystem. Denn bei den bisherigen Stationärmotoren war es so träge, dass es die Höchstdrehzahl und damit die Leistung der Motoren begrenzt, weil die Zündvorgänge nicht schnell genug aufeinander folgen konnten. Maybach widmete sich diesem Problem, arbeitete sich durch zahllose Patentschriften und fand schließlich den Hinweis auf die Möglichkeit einer ungesteuerten Glührohrzündung in der Patentschrift des Engländers Watson. Diese erwies sich für die angestrebten hohen Drehzahlen als geeignet. Die von Maybach ersonnene Glührohrzündung gewährleistete eine sichere Zündung.
Daimler sollte die Glührohrzündung in seinen Motoren bis 1898 nutzen. Ihr Wirkprinzip ist einfach: Ein von außen beheiztes Glührohr ragt in den Zylinder, fast an gleicher Stelle, wo heute die Zündkerze sitzt. Das vom Kolben im Zylinder komprimierte Gasgemisch wird gegen das glühende Röhrchen gedrückt und entzündet sich an dessen Hitze.
In einem Schriftsatz, den er wegen einer Nichtigkeitsklage gegen sein Glührohrpatent formuliert hatte, schilderte Daimler die Schwierigkeiten bei dieser Erfindung: „Es war ein langer Weg, brauchte unendliche Versuche und die unablässige zielbewusste Arbeit des praktisch erfahrenen Ingenieurs, um trotz der anfänglich gänzlich abschreckenden Resultate bei diesen Versuchen mit der freien Zündung, bei den regelmäßigen Frühzündern, welche sich immer und immer wieder einstellten, die beim Antreiben und Komprimieren vor dem toten Punkt unerwartet und unvorhergesehen das Schwungrad zurückwarfen, statt vorwärts zu treiben, dem Experimentator die Handkurbel wie durch elektrischen Schlag aus der Hand rissen und so das Ziel der freien Selbstzündung als unmöglich erreichbar erscheinen ließen, nicht zu erlahmen, bis durch beharrliche Fortsetzung der Versuche, Abänderung der Formen und Dimensionen des Verbrennungsraumes, Änderung der Gemischladung usw. annehmbare und endlich gute, sich gleichbleibende Diagramme gewonnen wurden, und damit die Gewissheit von der Durchführbarkeit meiner ungesteuerten Zündung festgestellt und das Ziel erreicht war.“
Nach Überwinden dieser Hürde ging es um das Arbeitsverfahren des Versuchsmotors. Aus ihrer Tätigkeit bei der Gasmotorenfabrik Deutz war beiden das Viertaktprinzip bestens vertraut. Sie wählten es, wohl wissend, dass Ottos Viertaktpatent DRP 532 noch gültig war, gekoppelt allerdings an die von Otto angenommene schichtenförmige Ladung des Zylinders und eine langsame Verbrennung des Gasgemischs. Daimler begründet daher seinen Anspruch für den „Gasmotor mit Glührohrzündung“ unter anderem mit einer Explosion und rascher Verbrennung. So nachzulesen in der Patentschrift zum DRP Nr. 28 022, erteilt am 16. Dezember 1883, für den ungekühlten, wärmeisolierten Motor mit ungesteuerter Glührohrzündung. Das Patent ist ein Meisterwerk der Formulierungskunst, weil es streng genommen dem Viertaktprinzip von Otto entspricht, und es sollte auch zum Gegenstand erbitterter Patentprozesse werden. Doch Daimlers Anspruch blieb bestehen. Am 23. Dezember 1883 folgte das Patent DRP Nr. 28 243 zur „Regulierung der Geschwindigkeit des Motors durch Steuerung des Auslassventils“. Dies war ebenfalls eine wichtige Erfindung für den effizienten Betrieb des Verbrennungsmotors.
In der zweiten Hälfte des Jahres 1883 bauten Daimler und Maybach dann den ersten Versuchsmotor, ein liegender Viertakt-Einzylinder. Er entwickelte dank der Glührohrzündung und der Kurvennutensteuerung, die das Auslassventil betätigt, aus einem Hubraum von rund 100 Kubikzentimetern eine Leistung von rund 0,18 kW bei 600/min. Das war deutlich mehr als die bis dahin bei Viertakt-Gasmotoren maximal erreichbaren 180/min. Das Einlassventil, „Schnüffelventil“ genannt, öffnete automatisch durch Unterdruck. Das Motorgehäuse ließen sie bei der Glockengießerei Kurz in Stuttgart gießen, es wurde in deren Büchern als „kleiner Modellmotor“ geführt. Sie lieferte es am 15. August 1883.
Aufgrund seiner Drehzahl wird der Motor damals als „schnelllaufend“ bezeichnet. Diverse Erfindungen der Folgejahre zielten immer wieder darauf ab, die Drehzahl weiter zu steigern – der logische Weg, um die Leistung weiter zu erhöhen. Zugleich wurden aber bereits damals Effizienzüberlegungen mit einbezogen, um mit dem im Tank vorhandenen Treibstoffvorrat eine möglichst lange Arbeitsdauer des Motors zu ermöglichen.
Im Jahr 1884 folgte die nächste Ausführung des Versuchsmotors. Diesmal war es ein stehender Viertakt-Einzylinder, und der Motor wurde wegen seines charakteristischen Aussehens „Standuhr“ genannt. Er wurde am 3. April 1885 zum Patent angemeldet (DRP Nr. 34 926). Seine Konstruktion war auf ein geringes Gewicht und eine kompakte Bauweise ausgerichtet, damit erfüllte er die Voraussetzung, in Fahrzeuge eingebaut zu werden. Seine Leistung betrug zunächst 0,74 kW. Grundlegend war zudem die Bauart, dass die Getriebeteile und das Schwungrad in einem öl- und staubdichten Kurbelgehäuse eingekapselt waren. Erstmals gelangte der von Maybach entwickelte „Schwimmer“-Vergaser zum Einsatz, nach heutiger Lesart ein Oberflächen-Vergaser, der den problemlosen Betrieb mit Benzin erst ermöglichte. Der Schwimmer sorgte für eine konstante Treibstoffmenge. Da der Luftstrom so durch eine stets gleich hohe Treibstoffschicht hindurch führte, wurde ein gleichbleibendes Kraftstoff-Luft-Gemisch möglich – eine wesentliche und grundsätzliche Erfindung für einen gleichmäßigen Motorbetrieb.
In der Patentschrift findet sich ein interessanter Nebensatz, beachtenswert in seiner Voraussicht: „Anstelle des Verdunstungs-Apparates kann auch eine Zerstäuberpumpe verwendet werden“ – aus dieser Idee entstand später die Einspritzpumpe.
Das erste Versuchsfahrzeug für die „Standuhr“ wurde 1885 der Reitwagen. Er hatte als zweirädriges Mobil das Fahrrad zum Vorbild: Fahrräder, damals noch Draisine und später Velociped genannt, waren ehedem noch junge Fahrzeuge und gelten als höchst modern. Doch aus Stabilitätsgründen wählte Daimler Holz als Baumaterial für den Rahmen. Der Motor wurde 1885 unter dem Fahrersitz eingebaut. Er entwickelte aus einem Hubraum von 265 Kubikzentimetern eine Leistung von 0,4 kW bei 600/min. Die Kraftübertragung erfolgte von der Motorriemenscheibe über einen Treibriemen zum Hinterrad. Zwei Geschwindigkeiten waren möglich: Je nach gewählter Riemenscheibe, die im Stand vorgewählt werden musste, sind es 6 oder 12 km/h.
Konsequent waren beim Motor bereits Grundsätze des Leichtbaus verwirklicht, wie ein Detail zeigt: Maybachs Konstruktion sah zur Befestigung der Zylinder keinen Flansch vor, sondern der untere Teil des Zylinders war etwas verstärkt und mit einem Feingewinde versehen. Rund fünfzig Jahre später wurde diese Bauart wieder aufgegriffen, als man eine leichte und sichere Montagemöglichkeit für Flugmotoren-Zylinder suchte.
Eine zeitgenössische Veröffentlichung schilderte die Funktionsweise des Reitwagens: „Wenn der Motor in Gang gesetzt werden soll, so wird unter dem Glührohr die kleine Flamme angezündet und der Motor mittels der Kurbel einmal angedreht; diese Vorbereitung ist in einer Minute geschehen. Der Motor arbeitet ruhig, da zur Dämpfung des Auspuffes in die Auspuffleitung ein Auspufftopf eingeschaltet ist. Soll das Fahrzeug in Bewegung gesetzt werden, so besteigt der Fahrer dasselbe, ergreift das Steuer und bringt den Motor mit dem Fahrrad in Verbindung. Dies geschieht durch den Hebel, die Schnur und die Spannrolle; durch diese wird nämlich der Treibriemen gegen die Scheibe angezogen. Die Riemenscheiben dienen zur Erzielung verschiedener Geschwindigkeiten; wird der Treibriemen in die obere Lage gebracht, so fährt das Fahrrad langsam, von der unteren Lage aus erzielt man ein schnelleres Fahren. Die Bremse wird durch eine Schnur angezogen, die für den Fahrer bequem erreichbar ist; will man das Fahrrad zum Stillstand bringen, so schaltet man durch einen Hebel zwischen Sitz und Lenkrad den Treibriemen aus und alle Bewegung hat ein Ende.“
Der Reitwagen ist der wichtigste Vorreiter der individuellen Mobilität mit Hilfe des Verbrennungsmotors. Zum einen stellt er die Möglichkeiten des von Daimler und Maybach erdachten Motors unter Beweis, ein Fahrzeug anzutreiben. Zum anderen dokumentiert er, dass der Mensch diese Maschine vollständig kontrollieren kann, mit dem Ziel der individuellen Fortbewegung. Die späteren Automobile haben diese zu höchster Reife fortentwickelt.
Im November 1885 legte Gottlieb Daimlers Sohn Adolf mit dem ungefederten „Reitwagen“, ausgestattet mit eisenbeschlagenen Reifen, die drei Kilometer lange Strecke zwischen Cannstatt und Untertürkheim ohne Probleme zurück. Das dürfte angesichts des Zustands der damaligen Straßen nicht unbedingt ein Vergnügen gewesen sein – doch das erste „Motorrad“ der Welt bestand seine Bewährungsprobe. Für Daimler und Maybach war es nur die Vorstufe zum Motorwagen, der 1886 in Form der Motorkutsche folgte – so wie der Patent-Motorwagen von Carl Benz. Der Erfolg beider Erfinder ist große Geschichte.