- Detaillierte Streckeninformationen für Straßenrennen und Rallyes
- Der Kopilot „betet“ dem Fahrer die Angaben für die schnellstmögliche Fahrt vor
- Paradebeispiel ist der überragende Sieg von Stirling Moss und Denis Jenkinson bei der Mille Miglia 1955 mit dem Mercedes-Benz 300 SLR Rennsportwagen
- Exponatreihe „33 Extras“: Objekte der Automobilkultur im Mercedes-Benz Museum
160 Fahrzeuge und insgesamt 1.500 Exponate präsentiert die vielfältige Dauerausstellung des Mercedes-Benz Museums. Ein besonderer Bestandteil sind die „33 Extras“: Sie lassen am Beispiel oft überraschender Details Mobilitätshistorie und Automobilkultur lebendig werden. Die Newsletter-Reihe Mercedes-Benz Museum Inside lenkt den Blick auf die „33 Extras“ und bringt ihre Geschichten auf den Punkt. In der heutigen Folge geht es um das Gebetbuch.
15/33: Das Gebetbuch
1 – Rekordzeit: Das Buch im Mercedes-Benz Museum ist kein Buch im herkömmlichen Sinn, sondern eine sehr geschickte Lösung für eine konkrete Anwendung: Während der Mille Miglia 1955 liest der Kopilot Denis Jenkinson die detaillierten Streckeninformationen von einer fünfeinhalb Meter langen Papierrolle in einem Aluminiumgehäuse mit Plexiglasfenster ab. Das lässt Stirling Moss am Steuer des Mercedes-Benz 300 SLR Rennsportwagen (W 196 S) das harte Straßenrennen in einer nie mehr erreichten Rekordzeit fahren.
2 – Vertrauen: Ein normales Buch hätte Jenkinson im offenen Fahrzeug kaum präzise blättern können. Und weil es im Cockpit sehr laut ist, gibt er die minutiösen Streckendetails per Handzeichen an Moss weiter – dieser setzt sie mit blindem Vertrauen in die maximal mögliche Geschwindigkeit um.
3 – Vorgängerin: Neu ist die Idee nicht, die Strategie eines Rennens auf der Grundlage präziser Streckenkenntnis zu entwickeln. Als Wegbereiterin dieses analytischen Vorgehens gilt in den 1920er-Jahren die tschechische Rennfahrerin Elisabeth Junek (1900 bis 1994).
4 – Wissen: „Gebetbuch“ nennen Rallyefahrer solche Streckenaufzeichnungen mit allen Details, weil der Beifahrer im Wettbewerb ähnlich einer Litanei die Eigenschaften der Strecke vorliest: Wie schnell kann gefahren werden, welche Kurve kommt als Nächstes, wie ist der Untergrund beschaffen? Für die 1.600 Kilometer lange Strecke der Mille Miglia tragen Moss und Jenkinson 1955 bei mehreren Trainings in Italien akribisch dieses Wissen zusammen. Sie strukturieren die Aufzeichnungen nach den Kilometersteinen entlang den Straßen.
5 – Erprobung: Erstmals setzen beide das Gebetbuch nach Ostern 1955 beim Training ein. „Jetzt hatten wir die Details der Route perfekt zusammengetragen, und ich schrieb sie nun alle auf ein spezielles, 18 Fuß langes Blatt Papier. Moss hatte ein Leichtmetallgehäuse nach Art eines Kartenrollers bauen lassen. Für unser abschließendes Training nutzte ich diese Maschine und wickelte das Papier von der unteren auf die obere Rolle, während ich die Notizen durch ein Plexiglasfenster ablas. Dieses war mit Klebeband abgedichtet, falls es während des Rennens regnen sollte.“ (“By now, our details of the route were perfected and I now wrote them all down on a special sheet of paper eighteen feet in length. Moss had had an alloy case made, on the map-roller system, and for our final practice I employed this machine, winding the paper from the lower roller to the upper one, the notes being read through a Perspex window, sealed with Sellotape in the event of the race being run in rain.”)
6 – Zeichen: Der Code aus 15 Handsignalen bewährt sich, wie Stirling Moss nach der Mille Miglia 1955 sagt: „Wir waren uns einig, dass dies eine bessere Methode zur Kommunikation als jede andere war, nachdem wir vorher offene Mikrofone, Kehlkopfmikrofone und anderes ausprobiert hatten.“ (“This we agreed was a better method than any other for communication, having tried open microphones, throat ‘mikes‘ and several other methods.”) Der Lohn aller Mühe: 10 Stunden, 7 Minuten und 48 Sekunden für die 1.000 Meilen und ein Durchschnitt von 157,6 km/h – niemand hat das Straßenrennen je schneller absolviert.