- Ein ideales Streckenprofil auf knapp 35 Kilometer Länge
- Fahrwerkentwicklung von den 1960er bis in die 1980er Jahre hinein
- Diverse Fahrzeuge von Mercedes-Benz wurden dort abgestimmt
Ein Auto ist ein sehr komplexes Produkt. Bevor es auf den Markt kommt, wird es intensiv erprobt. Dabei prüfen die Ingenieure sämtliche Eigenschaften und alle Technikkomponenten des Fahrzeugs, gehen mitunter bis an die Belastungsgrenzen der Teile, um das Verhalten des Fahrzeugs in Extremsituationen zu erfahren. Die Ergebnisse dienen dem Feststellen des Erreichten – Basis, um das Auto zur Serienreife zu entwickeln.
Ein Auto muss vor allem beim Fahren seine unterschiedlichen Qualitäten beweisen. Die Fahrwerkserprobung und -abstimmung ist deshalb Kernbestandteil vieler Tests. Sie findet auf unternehmenseigenem Gelände statt, aber auch auf öffentlichen Straßen. Denn das ist das Terrain, auf dem sich die Autos später tagtäglich bewegen. Ideal ist eine Testrunde mit umfassendem Streckenprofil, die auf vergleichsweise kurzer Strecke ein komplettes Bild über das Fahrzeug ermöglicht.
Dieses Ideal finden die Mercedes-Benz Ingenieure in den 1960er Jahren um den kleinen Ort Friedrichsruhe, knapp 30 Kilometer von Heilbronn und 75 Kilometer von Stuttgart entfernt. Genau 34,5 Kilometer ist die von ihnen dort festgelegte Testrunde lang, und sie bietet alle Möglichkeiten, um das Fahrwerk eines Autos zu erproben und abzustimmen. Zwei kürzere Runden mit 18,9 und 26,5 Kilometern bieten weitere Möglichkeiten, um präzise Erkenntnisse zu erlangen, ohne die große Runde fahren zu müssen. Denn Testfahren erzeugt dichte Ergebnisse: Verbesserungsvorschläge der Ingenieure werden gleich nach der Fahrt versuchsweise umgesetzt und das Fahrzeug umgehend der nächsten Erprobung unterzogen, um die Wirksamkeit der Maßnahmen zu prüfen. So kann es beispielsweise sein, dass eine andere Feder-Stoßdämpfer-Kombination eingebaut wird, um das Fahrverhalten zu verbessern. Für die genaue Evaluierung notwendig ist eine sehr genaue Kenntnis der Rundstrecke – mit ein Grund, warum man über Jahre die Routen beibehält: Die Testingenieure kennen jeden Meter der Tour und damit exakt die Stellen, die ihnen für die jeweilige Fragestellung Informationen liefern. Was auch der Vergleichbarkeit dient: Die eine Seite der Tätigkeit ist das Fahren und Prüfen des Autos; auf der anderen Seite steht das genaue Erkennen des Verbesserungspotentials und das Vorschlagen von Maßnahmen – nur damit lässt sich Automobilentwicklung betreiben.
Die ideale Teststrecke zur Fahrwerkserprobung bietet verschiedene Fahrbahnoberflächen: Beispielsweise ebenen Asphalt, wellige Verformungen, Unebenheiten rechts oder links, einzelne Schlaglöcher, enge und weite Kurven, lange Geraden für Schnellfahrten – jede mögliche Form ist erwünscht, um das Fahrzeug zu Reaktionen anzuregen, die wiederum Informationen über die vorhandene Fahrwerksauslegung geben. In Friedrichsruhe ist das auf einer Strecke von knapp 35 Kilometern gegeben. Wichtige Baureihen wie beispielsweise die S-Klasse (Baureihen W 116 und W 126) und die SL-Klasse (Baureihen R/C 107 und R 129) sind dort abgestimmt worden.
Weil die Bedingungen in Friedrichsruhe, nur eine Autostunde von Stuttgart entfernt, so ideal sind, veranstaltet die Marke dort auch Presse-Fahrveranstaltungen, um den Journalisten neue Autos zu präsentieren. Etwa das Coupé der Baureihe 126, der Mercedes-Benz 500 E (W 124) oder das Cabriolet der Baureihe 124 werden dort vorgestellt.
Über die Jahre ergeben sich freilich Änderungen. So erhält etwa das Autobahnstück, das in die Friedrichsruhe-Runde eingebettet ist, eine Geschwindigkeitsbeschränkung, somit fällt die Möglichkeit weg, die wichtige „vmax-Erprobung“ zu fahren, also mit der Höchstgeschwindigkeit des Fahrzeugs unterwegs zu sein. Nicht um des Rasens willen, sondern um herauszufinden, ob das Auto auch in hohen Geschwindigkeitsbereichen den Anforderungen entspricht, etwa in Bezug auf Fahrstabilität oder Windgeräusche. Bei anderen Steckenabschnitten werden Fahrbahnunebenheiten beseitigt, die vor allem bezüglich Fahrkomfort und Abrollverhalten (Federung, Dämpfung) notwendig sind. Auch der Verkehr nimmt zu. Diese Änderungen und andere Gründe, beispielsweise das in südlicheren Gefilden bessere und stabilere Wetter, führen dazu, dass Mercedes-Benz Mitte der 1980er Jahre die Fahrwerkserprobung und Fahrzeugabstimmung auf dem Rundkurs in Friedrichsruhe schrittweise reduziert und schließlich ganz einstellt.
Aber heute noch lässt sich in Friedrichsruhe im Wortsinn viel erfahren. Denn in ihren Grundzügen existiert die Teststrecke wie damals, und auch immer noch gibt es eine Vielzahl von Stellen, die Rückschlüsse auf das Fahrwerk und das Gesamtfahrverhalten zulassen. Es lohnt sich, die Strecke zu fahren – vielleicht sogar mit einem Klassiker von Mercedes-Benz, dessen Fahrwerk seinerzeit in Friedrichsruhe abgestimmt oder der dort präsentiert worden ist.