Dossier: Mercedes-Benz Typ 300 SL Coupé

300 SL Coupé Flügeltürer

300 SL Coupé Flügeltürer

MövenPick

Im August 1954 lief die Serienproduktion des 300 SL Coupés an. Das verdanken wir in erste Linie einem gewissen Max Hoffman, davon später mehr . . .

Fast ist man geneigt zu beginnen mit dem Adventslied von Georg Weissel aus dem 17. Jahrhundert: „Macht hoch die Thür, die Thor‘ macht weit . . .“ Nachdem der 300 SL von einem der führenden Fachmagazine für Oldtimer, der Motor Klassik, zum Sportwagen des 20. Jahrhunderts gewählt wurde, habe auch ich nach einem besonderen Exemplar gesucht. Es sollte nicht nur ein Flügeltürer sein (in englisch nennt man sie Gullwing, was Mövenflügel bedeutet), sondern er sollte eine eigne und möglichst spannende Geschichte haben. Dass der Wagen, der uns für dieses Dossier Modell gestanden hat auch noch gänzlich im Originalzustand war, erfreute Fotografen wie Schreiber gleichermaßen. Berühmter Vorbesitz und unendliche Geschichten des heutigen Besitzers Hans-Jürgen Conredel runden das Bild ab bis zur Begebenheit, der Mille Miglia-Teilnahme im Mai 2001, bei der das Team als Einzelkämpfer immerhin den 87. Platz erreichte . . . Alle führenden Motorjournalisten waren sich Anfang dieses Jahres einig: Der 300 SL ist der Sportwagen des Jahrhunderts.

Stolzer Besitzer im 300 SL Coupé

Stolzer Besitzer im 300 SL Coupé

Nur was soll man noch über ein dermaßen hochgelobtes Fahrzeug schreiben? Ist nicht alles bereits dokumentiert? Gibt es nicht ein Dutzend Bücher die sich ausschließlich mit diesem Wagen befassen? Kann ich irgendetwas neues dazu beitragen? Wahrscheinlich nicht. Und trotzdem möchte ich mir Mühe geben, den Wissenden neue Eindrücke zu vermitteln und den Unwissenden die Grundkenntnisse darzustellen. Gleich zwei Clubs in Deutschland kümmern sich um dieses Modell: Seit 1971 der Mercedes-Benz Veteranen Club und seit 1978 der MERCEDES-BENZ 300 SL Club.

Der 300 SL wurde erstmals als reiner Rennwagen der Nachkriegsproduktion aus dem Stuttgarter Unternehmen im Frühjahr 1952 vorgestellt. Die Rennerfolge waren beachtlich. Ob Mille Miglia, Carrera Panamericana, Le Mans oder welche Rennstrecke auch immer, diese Wettbewerbsfahrzeuge hatten es offensichtlich in sich. Als die ersten Berichte von den Rennen die Pressewälder füllten, dachte man im Vorstand wahrscheinlich noch nicht an mehr als an einen Imageträger. Erst der Generalimporteur der USA, Max Hoffman, brachte die Idee und damit den Stein ins rollen. Daher ist es auch nicht verwunderlich, daß die Vorstellung des Serienmodells zuerst im starken USA-Markt bei der New York Autoshow im Jahre 1954 stattfand.

Mille Miglia 300 SL Coupé

Mille Miglia 300 SL Coupé

Die Zeit

Im gleichen Jahr heiratete Marilyn Monroe das Baseball-Idol Joe DiMaggio und Bill Haley landete einen Hit mit „Shake, rattle and roll“. Zeitgleich wurde übrigens ein „Sportwagen“ auf Basis des Pontons präsentiert, nämlich der 190 SL Roadster. Thomas E. Salk erringt einen Sieg gegen eine schreckliche Krankheit: Er entwickelte die Impfung gegen Kinderlähmung. Und in Deutschland? – Wurde gejubelt als Sepp Herberger die Nationalmannschaft nach dem Sieg über Ungarn als Fußballweltmeister nach Hause führte. Es war also turbulent im Jahre 1954 und dann kam auch noch der Flügeltürer für Privatfahrer auf den Markt. Die Typenbezeichnung des Mercedes-Benz 300 war im Volksmund durch den Spitznamen Adenauer ersetzt worden, da der gleichnamige Kanzler der noch jungen Republik Deutschland diesen Fahrzeugtyp bevorzugte. Der 300 SL schlug also in der richtigen Zeit ein. Überall herrschte Aufbruchstimmung und in Deutschland kam das Gefühl „Wir sind wieder wer“ auf. Der 300 SL Gullwing (Möwenflügel) wurde dann auch in USA der große Verkaufsrenner, woran die hervorragenden Fahreigenschaften mit Sicherheit einen Löwenanteil hatten. Ein weiteres wesentliches Merkmal ist jedoch das umwerfende und unvergleichliche Design dieses Wagens. Die Flügeltüren, so unpraktisch sie sein mögen, sprengten den Rahmen des bis dahin vorstellbaren. Ein abklappbares Lenkrad, was den Einstieg erleichtern sollte (es aber nicht tat), die Kiemen seitlich über den Kotflügeln, die sehr lange Schnauze und das kurze, fast bucklige und doch elegante Heck, große Lufteinlässe auf beiden Seiten waren die Merkmale, die den amerikanischen Automobilen dieser Zeit so fremd waren wie nur irgendwas. Hier traten nämlich in diesem Jahr die Heckflossen ihren Siegeszug an. Und die Sportwagen aus der heimischen Produktion vom Schlage einer Chevrolet Corvette verdienten diesen Namen im Vergleich mit allen europäischen Konkurrenten nicht.

Rennwagen Konstruktion

300 SL Motor

300 SL Motor

Selbst im europäischen Kontext war der 300 SL eine Klasse für sich. Die Autotester konnten teilweise keine Superlativen mehr finden, die sie nicht schon bei Wagen wie dem Jaguar XK 120 oder beim Gordini 2.3 Liter, geschweige denn beim 3 Liter Ferrari gebraucht hätten. Obwohl selbst das Prospekt ein wenig zu hoch prahlte mit einer Spitzengeschwindigkeit von 260 km/h, muß man einfach neidlos zugeben, daß die Fahrleistungen selbst bis vor ein paar Jahren noch beachtlich gewesen sind. Heute werden die meisten Fahrzeuge bei einer Geschwindigkeit von 250 km/h elektronisch abgeregelt. Sicherlich hätte Rudolf Uhlenhaut, der den 300 SL mit seinem Gitterrohrrahmen konstruiert hatte, auch gerne noch 30 PS mehr haben wollen wie der eben erwähnte Ferrari. Andererseits muß man auch sehen, daß in Italien auf eine Rennmaschine hin ein Motor entwickelt worden war, während der 300 SL sich grundsätzlich des Triebwerks der eher biederen 300 Limousine bediente. Die gewaltige Mehrleistung im Vergleich zur Limousine (215 statt 115 PS) aus knapp drei Litern Hubraum resultierte nicht zu letzt aus der, für Daimler-Benz im Pkw-Bereich neuen Technik der Benzin-Dirketeinspritzung. Diese Pumpe funktioniert mechanisch und ist daher in ihrem Innern aufgebaut wie ein kleinerer Motor. Sechs Kolben, die durch eine Welle angetrieben werden befördern den Kraftstoff in die Brennräume des Antriebsaggregates. Diese hochpräzise Maschine sorgt für ein Drehmoment von 280 Nm. Dies in Verbindung mit einem Wagengewicht von rund 1300 Kilo macht die Fahrt im SL zum Bullet Ride (Ritt auf der Kanonenkugel) wie ein

Luftauslass 300 SL W198

Luftauslass 300 SL W198

amerikanischer Tester es nannte. Aber auch die Leichtbauweise (der Gitterrohrrahmen wog nur rund 90 kg) und ebenfalls der für damalige Zeiten enorm günstige cw-Wert von 29 machte im Rennen die Vorteile der Konkurrenz wett. Der Rahmen besteht aus einem geschickt ausgeklügelten Gitter, bei dem, abgesehen von zwei Quertraversen, keines der tragenden Rohre auf Biegung, sondern nur auf Zug und Druck beansprucht wird. Aus diesem Rahmen mit recht hohen Seitenstreben entstand auch die Notwendigkeit der Flügeltüren. Die Seitenscheiben sind demnach auch mangels Platz nicht zum Versenken gedacht. Die Heizungs- Lüftungsanlage darf man wirklich nicht so nennen. Keineswegs ausschließlich an besonders warmen Tagen heizt sich der Innenraum recht schnell auf und da kann auch das Gebläse nicht wirklich Abhilfe schaffen. Die kleinen Entlüftungsöffnungen kurz über der Heckscheibe lassen die Hitze einfach nicht schnell genug entweichen. Besonders schlimm ist dies auch noch bei den vielen mangelhaft restaurierten

Gitterrohrrahmen des 300 SL

Gitterrohrrahmen des 300 SL

Fahrzeugen, da meist nicht mehr diese Wärmeabschirmung zum Motorraum gewährleistet wird wie beim unberührten Originalfahrzeug. Von den 1400 entstandenen Flügeltürern wurden sogar nur 29 mit Aluminium Karosserie angefertigt. Das Steigerte das Leistungsgewicht von 5,1 kg/PS auf 4,89 kg/PS, was sich in der Realität keineswegs nur im Aufpreis bemerkbar gemacht haben dürfte. Tatsächlich andere Geschwindigkeiten erreicht man durch insgesamt fünf verschiedene Hinterachsübersetzungen. Ein Merkmal für einen besonders frühen SL ist der Stern im Lufteinlaß des Bugs. Nur die Ersten hatten nämlich einen Stern, der vorn konkav ist und auf der Rückseite einen Knick aufweist. Diese Anschrägung sollte das Öffnen der Motorhaube begünstigen. Später wurde der Stern insgesamt einfach etwas kürzer und behinderte den Deckel dadurch nicht. Apropos Deckel: Ein weiterer Deckel, der eine andere Lösung als normal verlangte, war der Tankverschluß. Üblicherweise haben Fahrzeuge ihren Einfüllstutzen für Kraftstoff von Außen zugänglich. Beim SL-Cuope hätte dies aber die Aerodynamik gestört und so entschied man sich, diese Tanköffnung innerhalb des Kofferraums unter zu bringen. Kofferraum ist dabei ein großes Wort, das der verbleibende Platz unter dem Heckdeckel neben Tank und Reserverad noch bietet. Der eigentliche Kofferraum befindet sich direkt hinter den Vordersitzen. Als reinen Zweisitzer gebaut, beraubten sie dort nicht mal einem Kurzzeit-Gast die Mitfahrgelegenheit.

Antrieb oder Vorschub

Um die Stirnfläche für einen Sportwagen möglichst gering zu halten und dadurch einen günstigeren Windwiderstand zu erhalten, wurde der Motor um 45° geneigt. Damit die Demontierbarkeit des Zylinderkopfes weiter gewährleistet werden konnte, wurde dieser ebenfalls schräg angesetzt. So wurde er dann auch im Adenauer eingebaut, da hier keine Notwendigkeit für eine andere Konstruktion bestand. Daß die Fahrweise stark den Verbrauch bestimmt, kann man selten so wie beim 300 SL erkennen. 12 bis 14 Liter bei gemäßigter (nicht langsamer) Fahrweise bis hin zu 25 Litern

Besondere Details des 300 SL W198

Besondere Details des 300 SL W198

Superbenzin bei der Ausschöpfung des gesamten Potentials zeigt die Spanne der Möglichkeiten. Außerdem wird behauptet, man könne den 2. Gang bis 125 km/h ausfahren, könne aber andererseits von 35 km/h bis zur Endgeschwindigkeit von knappen 260 km/h im vierten Gang mühelos und ruckfrei erreichen. Die Trommelbremsen aus Leichtmetall, mit verschweißtem Stahlring nach dem Alfin-Verfahren, wurden damals als adäquat bezeichnet. Die Alu-Trommel ist mit Kühlrippen versehen, um die Reibungswärme schneller abführen zu können, die die vordere Duplex-Bremse produziert. In späteren Jahren wird man merken, daß eine Scheibenbremse doch um ein vielfaches wirksamer ist.

Das zweite Gesicht

Der Mercedes-Benz 300 SL besitzt so etwas wie den Januskopf. Er ist ein Wagen mit zwei Gesichtern und mit zwei Gruppen von Fans. Die einen sind fasziniert von den technischen Leistungen und können von Kraft und Straßenlage bild4nicht genug bekommen; während die anderen gefesselt sind von Design, Form, Ausführung und Ausstattung. Deutlich wird dies in den diversen Vorreiterpositionen, die dieser Wagen einnimmt. Der Himmelbezug war nicht wie bei anderen „normalen“ Autos mit Spriegeln zu gewährleisten, sondern mußte, aufgrund der andersartigen Dachkonstuktion, vollflächig verklebt werden. Ausschlagtuch für Faltschiebedächer kam hierbei zum Einsatz, da sich dieses Material besser verarbeiten lässt als das sonst übliche Baumwoll – Himmeltuch. Die Version von vollverklebten Kassettenhimmeln kennen wir seit Ende der Achtziger Jahre wieder. Der Flügeltürer begründet auch beispielsweise den Trend, ein Auto mit sportlicher Note mit einem karierten Stoff auszustatten. Alle Wagen deutscher und zum Teil auch ausländischer Produktion geben sich durch die Verwendung von Karos den sportiven Charakter. Letztes Beispiel in dieser Reihe ist der VW Golf GTI von 1978. Beim 300 SL Flügeltürer konnte selbstverständlich auch eine komplette Lederausstattung geordert werden, wie sie beim späteren Roadster ausschließlich verbaut wurde. Tat man dieses nicht, wurde einer von vier verschiedenen Bezugsstoffen gewählt. Diese waren grau/rot, grau/grün, grau/blau oder rot/grün und hatten samt und sonders ein rotes und ein

Sitoffe im 300 SL W198

Stoffe im 300 SL W198

gelbes Gitter mit eingewebt. Da diese Materialien lange Zeit nicht zu beschaffen waren, sind viele Fahrzeuge nachträglich mit Leder ausgestattet worden, welches außer an den Sitzen sowieso zum Einsatz kam. Apropos Sitze: Das Ein- und Aussteigen beim Flügeltürer ist Wider Erwarten keine einfache Übung. Auch das abklappbare Lenkrad ist dabei fast eher hinderlich als erleichternd. Hat man aber einmal in diesen sehr tiefen Schalen (damals sagte man Kübelsitz) gefunden, stellt sich der Rest als sehr einfach dar. Das Schalten des komplett synchronisierten Getriebes wird so einfach beschrieben, daß selbst die Dame, die ihren Führerschein frisch besitzt, damit zurecht kommt wie mit der Bedienung eines Staubsaugers. Die Instrumentierung ist zwar mit insgesamt sieben Uhren recht üppig, aber nicht unnütz oder verspielt. Lern– und gewöhnungsbedürftig sind jedoch die Schalter des Armaturenbrettes, da keiner unzweifelhaft durch

Abgeklapptes Lenkrad im 300 SL W198

Abgeklapptes Lenkrad im 300 SL W198

sein Aussehen verrät, welche Funktion er steuert.

Die Besitzer dieses Wagens

Karl Kling war nicht nur einer der berühmtesten Rennfahrer seiner Zeit und sympathischer Werbeträger für diesen Wagen, sondern er war auch einer der Vorbesitzer des 300 SL Coupés, von welchem die Photos zu diesem Bericht stammen. Abgesehen vom prominenten Vorbesitz ist an diesem Wagen noch ganz besonders sein unrestaurierter Zustand zu bewundern. Daß dieser SL jedoch kein Museumsstück ist betont sein jetziger Besitzer, Hans Jürgen Conredel, immer wieder. „Solch ein Auto muß gefahren werden, und zwar so wie er es braucht. Immer nur größte Zurückhaltung tut ihm nicht gut.“ meint der sympathische Mann mit dem weißen Haar. Und wenn man ihn läßt, kommt er

Der Rennfahrer Karl Kling

Der Rennfahrer Karl Kling

aus dem Geschichten erzählen nicht mehr raus. So beispielsweise, wie er auf der Autobahn von einem getuneten BMW gejagt worden sei, den er später bei einem Tankstop getroffen habe und dessen Besitzer sich sehr anerkennend über die zackige Fahrweise des betagten Vehikels ausließen. Oder wie er den bekanntesten Motorjournalisten Schwedens getroffen hat und wie er über dieses Kling-Auto geschrieben hat. Als jüngste Episode hat er dann die Story parat, wie er unlängst bei der Teilnahme an der Mille Miglia einen neuen Freund gewonnen hat. Ein konkurrierender Ferrari-Fahrer hatte ihn überholen wollen. Im Gegenzug hatte Conredel aber auch den italienischen Flitzer passiert. Dieses Spiel ging recht lange hin und her. Beim späteren Etappenziel hatten sie sich dann persönlich getroffen. Er Italiener, Conredel ohne entsprechende Sprachkenntnisse. Allerdings sprachen zufällig beide Beifahrer Spanisch und so kam es zur Unterhaltung mit Hindernissen, und trotzdem zu einer Freundschaft die hoffentlich noch länger hält. Für den Einzelkämpfer und Mille-Debütanten Conredel ist der 87. Platz im Gesamtklassement und siebter in der Landeswertung ein Titel, mit dem er nicht nur leben, sondern auf den er stolz sein kann. Doch all dies war nur möglich mit einem gut gepflegten, gewarteten und geliebten Mercedes-Benz 300 SL. Und so enden wir auch mit dem Ende der letzten Strophe in leichter Abwandlung des eingangs zitierten Adventliedes: „Dem Namen dein, oh Stern, sei ewig Preis und Ehr!“