Fußball-WM – Bustransfer

Vorwort von Jörg Maschke / Mercedes-Benz OldtimerTicker: Die gerade startende Fußball Weltmeisterschaft wirft viele Fragen zur Sinnhaftigkeit und sozialpolitischen Verträglichkeit dieses Sportereignisses auf. Da mir beim Thema Fußball leider der Einblick fehlt, ich aber den WM Bus-1974 im Mercedes-Benz Museum immer schon sehr hübsch fand, bringe ich den Artikel – trotz meiner eigenen Bedenken zur WM-2022.


Höchster Buskomfort für die WM-Fußballer 1974

  • Allen 16 Nationalmannschaften des Turniers stehen vor 48 Jahren Mercedes-Benz O 302 in den jeweiligen Landesfarben zur Verfügung
  • Klimaanlage, Stereosoundsystem, Getränke sind zeitgenössischer Komfort
  • Mercedes-Benz Museum Close-up: Automobile, Architektur und Ausstellung – Nr. 8/2022

„Close-up“ – der Name der Serie des Mercedes-Benz Museums ist Programm. Jede Folge erzählt Überraschendes, Spannendes, Hintergründiges. Dazu wirft sie den Spot auf Details eines Fahrzeugs, Ausstellungsexponats oder eines Elements von Architektur und Gestaltung. Diesmal im Blick: der Reisebus Mercedes-Benz O 302 von der Fußball-WM 1974.

O 302 – Nachbau der westdeutschen Fußballnationalmannschaft WM 1974

Nr. 8/2022: Mercedes-Benz 302 Reisebus von 1974

Blickfang: Dieser Reisebus O 302 im Raum Collection 4: Galerie der Namen fällt auf. Die markante Gestaltung mit dem Logo „WM 74“, der Aufschrift „BR Deutschland“ und den aufgebrachten Landesfarben Schwarz, Rot und Gold gibt den Hinweis auf den einstigen Einsatz. Es ist der Bus der westdeutschen Mannschaft während der zehnten Auflage der Fußballweltmeisterschaft vor 48 Jahren. Das Turnier findet vom 13. Juni bis 7. Juli 1974 in Westdeutschland und Westberlin statt. Sechzehn Nationen nehmen teil, und allen steht für sämtliche Fahrten jeweils ein O 302 zur Verfügung, mit den Landesnamen und -farben versehen. Oben auf dem Dach flattern außerdem Fähnchen der jeweiligen Mannschaft im Wind.

Zeitgenössischer Luxus: Die Türen des WM-Busses stehen den Museumsbesuchern immer offen. Ein Gang durch den Bus gleicht einer Zeitreise zum Buskomfort der 1970er-Jahre. Farbenfroh leuchtet der rot-orange Sitzbezugstoff. Oben an jedem Fauteuil ist ein Kopfstützenschoner angebracht. Zur Individualausstattung gehören außerdem Aschenbecher an jedem Sitz, ein bordeigenes WC und sogar eine Zapfanlage für frisches Bier. Ja, die Zeiten sind andere – alkoholfreier Gerstensaft findet erst viel später Verbreitung, und Rauchen ist selbst für Leistungssportler noch gesellschaftsfähig.

Interieur mit Aschenbecher an der Sitzlehne

Ein ganz besonderer Arbeitsplatz: Auf seinem gut gefederten Sitz kurbelt der Fahrer am großen schwarzen Lenkrad und nimmt durch die breite Panoramascheibe die nächste Spielstätte ins Visier. Auf dem Platz neben ihm: vermutlich Bundestrainer Helmut Schön, vielleicht auch Co-Trainer Jupp Derwall oder der Kapitän Franz Beckenbauer. Überliefert ist, dass jeder Spieler seinen festen Sitzplatz hat. Sicherlich des Öfteren ertönt aus dem Stereokassettenradio von Blaupunkt das WM-Lied „Fußball ist unser Leben“. Die Spieler der A-Nationalmannschaft des Deutschen Fußballbunds (DFB) haben es höchstpersönlich vor dem Turnier im Tonstudio eingesungen. Das Lied erklingt auch, sobald die Museumsbesucher den Bus betreten.

Stereokassettenradio von Blaupunkt

Gestaltung: Das Logo der WM 74 außen auf dem Bus stellt einen stilisierten rollenden Fußball dar. Vom Heck grüßen die Maskottchen der westdeutschen Mannschaft: Tip und Tap, zwei lachende Jungen mit roten Bäckchen im schwarz-weißen DFB-Dress. Sie stammen vom Saarbrücker Grafiker Horst Schäfer. Es gibt die Maskottchen unter anderem als Plüschfiguren, Schlüsselanhänger, auf Krawatten, Kinderschlafanzügen, Bierkrügen und Senfgläsern.

WM-Maskottchen Tip und Tap auf dem Heckfenster

Verwandtschaft: Warum außen „BR Deutschland“ auf dem Bus steht? Damals ist Deutschland noch geteilt, und die Mannschaft der Deutschen Demokratischen Republik von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs nimmt ebenfalls am Turnier teil. Auf ihrem Bus steht „DDR“. Sie scheidet in der zweiten Runde aus.

Reisekomfort: Der Omnibus O 302 wird ab Frühjahr 1965 gebaut. Mit ihm erfüllt Mercedes-Benz hohe Ansprüche bei Geschwindigkeit sowie Federungs- und Bedienkomfort. Erstmals als Sonderausstattung erhältlich: eine Klimaanlage. Die WM-Busse von 1974 sind damit ausgestattet, die „Thermo King“-Anlage ist hinten auf dem Dach untergebracht.

Ventilator gleich neben der Vordertür

Erfolgsmodell: Bis 1976 stellt Mercedes-Benz mehr als 32.000 Exemplare des O 302 her. Die Luftfederung, zunächst eine Sonderausstattung, ist ab 1971 serienmäßig an Bord. Es gibt den Bus mit vier verschiedenen Reihensechszylinder-Saugdieselmotoren und einem Leistungsspektrum von 93 kW bis 176 kW (126 PS bis 240 PS). Bereits 1974 geht die Nachfolgegeneration in Produktion, der O 303, der die Messlatte für Reisekomfort auf ein noch höheres Niveau hebt.

Rollendes Zuhause: Dreieinhalb Wochen sind die Fußballer mit „ihrem“ O 302 zu den Spielorten in ganz Westdeutschland unterwegs. Im Endspiel am 7. Juli 1974 in München trifft die DFB-Mannschaft auf die Niederlande. 25 Minuten nach Anpfiff steht es 1:1. Gerd Müller erzielt mit einem gekonnten Drehschuss schon vor der Pause nach Vorarbeit durch Rainer Bonhof das 2:1, mit dem das Spiel schließlich auch endet. Deutschland ist nach 1954 zum zweiten Mal Fußballweltmeister und jubelt. Die Vermutung liegt nahe, dass schon auf dem Weg ins Mannschaftshotel kräftig Feierbier aus dem Zapfhahn im Bus fließt.

Nachbau: Nach der WM werden die Reisebusse der sechzehn Mannschaften im normalen Reisebetrieb verwendet, nun ohne die besondere Außengestaltung. Irgendwann verlieren sich ihre Spuren, auch vom O 302 der westdeutschen Kicker. Und so ist der beliebte Bus im Mercedes-Benz Museum ein detailgetreuer Nachbau – und eines der beliebtesten Exponate dort.