MBMC: Ein Fortsetzungs-Roman mit einem 500K in der Nebenrolle – Teil 2

Baron Haussmann – Paris neu geboren – 1850-1870

„Es ist nicht zulässig, dass die Hauptstadt Frankreichs aus einem einheitlich und entschlossen verwalteten Zentralteil besteht, der einem bestimmten Finanzregime unterliegt, das seine städtischen Dienstleitungen angemessen sichert, durch ein offenes und gutes System öffentlicher Straßen verbunden ist und durch eine wachsame Polizei geschützt wird, und aus einem äußeren Bereich, der in 18 Gemeinden oder Teilgemeinden aufgeteilt ist, die durch 18 ebenso unterschiedliche wie unzureichende Steuern geteilt sind, ohne gut funktionierende Kommunikation, und ohne wirksame Überwachung. Es ist nicht der Name Paris, sondern der Name Babel, den man einer solchen Ansammlung geben sollte…“

Nichts weniger als die Einheit von Paris stand auf dem Spiel. Um sie zu sichern, war Baron Haussmann bereit, auf die Ressourcen des Zolls an den Stadttoren zu verzichten, obwohl diese durchaus nützlich waren. 1859 verwirklichte Haussmann eines seiner großen Projekte: durch ein Dekret vom 16. Februar, gefolgt von einem Gesetz vom 16. Juni (verabschiedet mit 228 zu 13 Stimmen) wurde beschlossen, die Vororte von Paris einzugemeinden.

Haussmann und Napoleon III. wollten bereits seit 1841 die doppelte Einschließung der Stadt durch Steuern (die höchst unbeliebten Warenzölle an den Toren der Stadt), und Militäranlagen (die von der Thiers-Regierung zw. 1840 und 1844 errichteten Befestigungsanlagen) beseitigen. Der Abriss des verhassten 1789 noch kurz vor der
französischen Revolution gebauten drei bis fünf Meter hohen „Mur des Fermiers Généraux“, der „Zollmauer“, die nach neuesten Erkenntnissen ein paar Monate nach ihrer Fertigstellung auch ihren Anteil zum Ausbruch der Revolution beitrug, brachte die teils vollständige, teils partielle Eingliederung all der kleinen Vororte mit sich, darunter auch den Vorort Montmartre. Die Grenze von Paris war nun durch den Abriss der Stadtmauern bis zu den Befestigungsanlagen von Thiers verschoben.

Die erste spektakuläre Folge dieses Gesetzes war die Verdoppelung der Stadtfläche von 3370 Hektar auf 7800 Hektar, und der Anstieg der Pariser Bevölkerung um 350.000 Einwohner. Paris zählte nun mehr als 1.600.000 Einwohner (New-York hatte zu der Zeit gerade mal halb so viel). Gleichzeitig wurde das neue Paris in den heute immer noch als solche bekannten 20 Arrondissements (Bezirke) aufgeteilt. Interessanterweise wird von
Haussmann zum „1er Arrondissement“, also zum ersten Bezirk der Bezirk ernannt, „in dem sich die kaiserliche Residenz der Tuilerien befindet, und der zweite Bezirk ist der Bezirk, in dem sich das Pariser Rathaus befindet“, ein kleiner Hinweis darauf, dass nebst dem Herrscher, er, Baron Haussmann, der Vertraute des Kaisers,  Bürgermeister von Paris, Präfekt des „Département de la Seine“, und Oberster Bauherr, die Nummer zwei im Staate war.

Die zweite, eher unangenehme, Folge für die Einwohner der Vorstädte war, dass es sich im Großen und Ganzen um Kleinbauern, Arbeitern und kleinere Angestellte handelte, die bereits der Lebenshaltungskosten wegen, aus der Mitte Paris in die Vorstädte verdrängt worden waren. Nun müssen diese neuen Städter wieder die höheren Steuern der Stadt Paris bezahlen, die wesentlich höher als die der Vororte waren. Fairerweise muss gesagt  werden, dass der Baron, der Präfekt der Seine, die Stadt nicht etwa aus Steuersadismus vergrößerte. In den umgebenden Gemeinden lies die Stadtverwaltung sehr zu wünschen übrig: Hygiene war gleich null, Straßeninstandhaltung und Müllabfuhr waren nicht vorhanden, Kanalisation sowieso nicht, das Bildungsniveau war erschreckend, und Polizisten gab es wenige. In Paris zum Beispiel gab es einen Polizisten pro Hektar und 360 Einwohner. In den Vorstädten dagegen einen einzigen pro 56 Hektar und für 5.165 Einwohner!

Als Napoléon III. 1848 zum ersten Präsidenten Frankreichs gewählt wurde, setzte er sich unter anderem das Ziel, eine sanitäre Stadt für alle Menschen unabhängig von ihrem sozioökonomischen Status zu schaffen. Ziel war es, einerseits die Ausbreitung der Cholera einzudämmen (insbesondere durch mehr natürliches Licht und Luft),  aber auch – wenn auch nicht laut verkündet – gleichzeitig den Reichen zu ermöglichen, getrennt von den Einwanderern und den Armen zu leben.

1850 beauftragte der zwischenzeitlich zum Kaiser ernannte Napoléon III. dann Haussmann mit der Stadterneuerung von Paris, und entließ ihn mit diesen Worten: „Paris ist das Herz Frankreichs; lassen Sie uns all unsere Anstrengungen darauf verwenden, diese große Stadt zu verschönern, und das Los ihrer Bewohner zu verbessern. Lassen Sie uns neue Straßen öffnen, die Volksviertel, denen es an Luft und Tageslicht mangelt, sanieren und das wohltuende Licht der Sonne überall in unsere Mauern eindringen.“

In Paris gab es zu der Zeit noch viele Gebäude aus dem Mittelalter, und dicht besiedelte Viertel, die durch enge Gassen – Straßen konnte man sie nicht gerade nennen – durchkreuzt und miteinander verbunden waren. Die Menschen aus der Arbeiterklasse lebten in einigen Bezirken unter den für Städte des XIX. Jahrhunderts typischen Bedingungen zusammen: Gestank und Krankheiten, vor allem durch die Abwässer, die durch die Straßen flossen. Kanalisation war in diesen Vierteln nicht existent, und gemäß Stadtverordnung flog nach dreimal laut ausgerufenen Warnungen oftmals der Inhalt eines gelinde gesagt gesundheitsbedenklichen Eimers unten auf die Straße. Die Wohlhabenden schauten wegen dieser Zustände auf die Viertel der „gefährlichen und arbeitenden Klassen“ in Paris herab, aber es gab auch politische Bemühungen, diese Verhältnisse zu verbessern.

Nach dreijähriger Planung fingen 1853 die eigentlichen Arbeiten an. Hausmann begann mit dem Durchbruch von geraden, breiten Boulevards, quer durch bebaute und bewohnte Viertel, und mit dem Abriss zahlreicher Häuser, bzw. Gebäude, (ohne Rücksichten zu nehmen, auch nicht auf sein Geburtshaus). Er ließ 20.000 Gebäude (mit 100.000 Wohnungen) nieder- und zahlreiche Straßen aufreißen, die im Weg standen. An die 80.000
Handwerker aller Berufsparten kamen in Paris zusammen, und arbeiteten zeitweilig bis zu 24 Stunden am Tag, 7 Tage in der Woche, in den letzten 30 Jahren des XIX Jh. auch nachts unter dem Licht von  Kohlebogenscheinwerfern, damals eine noch neue Erfindung. Hauseigentümer wurden entschädigt, und bekamen den – von ihnen selbst angegebenen – Marktwert der Immobilie ausgezahlt. Mieter hingegen gingen leer aus, da sie keinen Anteil an der Liegenschaft hatten, und mussten zu Tausenden binnen kürzester Zeit oftmals ohne Ziel ausziehen.

Die, die es sich leisten konnten, mieteten sich zu weitaus höherer Miete in im Rahmen der Sanierung bereits
neugebauten mehrstöckigen Häusern ein, die Mehrzahl zog, wenn sie sich nicht einen kleinen Umzugswagen
leisten konnte, mit ihrem armseligen Hab und Gut auf einem Handkarren in die neu eingemeindeten Randgebiete der Stadt. Insgesamt wurden so an die 350.000 Menschen aus ihren Wohnungen vertrieben. Einigen widerfuhr das Unglück, dass sie innerhalb von zehn Jahren zehnmal umziehen mussten. Jedes Mal wurde ihre Straße abgerissen!

Bislang wohnten Reiche, Angestellte, Geschäftsinhaber, Künstler, Bedienstete und Arbeiter im gleichen Viertel, in den meisten Gebäuden auch unter einem Dach. Der Unterschied bestand darin, auf welchem Stockwerk man seine Wohnung hatte.

Geschäfte und Restaurants lagen auf Straßen-Ebene, in der ersten Etage waren z. B. Büros, Ärzte, Rechtsanwälte und andere Dienstleistungen, etwa Frisöre oder Schneider untergebracht, im zweiten Stockwerk lebten die
Wohlhabenden, deren Wohnungen nicht nur die größte Fläche, sondern auch die größten Fenster und die höchsten Decken hatten. Je höher man stieg, desto kleiner wurden Wohnungen und Fenster und niedriger die Decke. Abgesehen davon war man, je niedriger man auf der sozialen Leiter stand, auch gezwungen, die meisten Stufen zu steigen.

Zur Erinnerung: Fahrstühle wurden erst in den letzten Jahren des XIX. Jahrhunderts erfunden, waren in den 1920er Jahren ein wahrer Luxus, und noch in den 1950er in Wohngebäuden selten. Doch zurück zu Baron Haussmann und seinen neuen breiten und geraden Straßen, u.a. den heutigen ‘Grands Boulevards‘ in Paris, die nicht allen gefielen, allen voran nicht dem Schriftsteller Victor Hugo, der sein malerisches, historisches Paris vermisste, und sein Missfallen deutlich zum Ausdruck brachte.

Baron Haussmann hatte ein weiteres Ziel vor Augen. Die gerade Ausrichtung der neuen breiten Straßen und geraden Perspektiven der neuen Gebäude hatte nebst Modernisierung auch strategische Gründe. Ein perfektes Beispiel dafür war die neu gebaute schnurgerade Rue de Rivoli – die erste auf der Liste von Haussmann‘s Renovierungsprogramm – wahrscheinlich auch deshalb, weil sie sich in unmittelbarer Nähe des Amtssitzes des Kaisers, des Tuilerien Palastes, befand.

Die Rue de Rivoli trat anstelle einiger engen, verwinkelten Straßen, die bei Volksaufständen immer wieder zu schwer zu überwindenden Barrikaden wurden. Das gesamte Gebiet war bereits während der Jahre 1830 und 1848 Schauplatz von Aufständen und bewaffnetem Widerstand der Bevölkerung gewesen, nicht zuletzt aufgrund
seiner Nähe zum Palast. G. Caillebotte, Rue de Paris, temps de pluie (1877).

Wenn Sie, liebe Leserin, lieber Leser, nun glauben, dass die Arkaden entlang der Straße gebaut wurden, um Sie vor Regen und Schnee zu schützen, so ist das aus heutiger Sicht verständlich. Jeder, der schon einmal in der Rue de Rivoli vom Regen überrascht wurde, wird ihren Schutz zu schätzen wissen… ebenso wie das Militär, zu dessen Schutz vor Kugeln und Steinen, die aus den Fenstern prasselten, die Haussmann-Arkaden gedacht waren…

Gleichzeitig wurde die Rue de Rivoli im rechten Winkel von drei neuen geraden Straßen gekreuzt: der Rue du Louvre, dem Boulevard de Sébastopol und der Rue du Renard, was der Polizei und dem Militär ermöglichte, die Massen von Demonstranten entlang der Rue de Rivoli bei Bedarf in drei Teile zu trennen und zu zerstreuen. Die geradlinige Anordnung der Straßen sollte es den Kanonieren ermöglichen, ihre Ziele besser zu  erfassen: „Kanonenkugeln wissen nicht, wie sie in die erste Straße rechts einbiegen sollen!“

Die Besessenheit von geraden Perspektiven ging so weit, dass ein gewisser Artillerie-Oberst Fougas meinte: „Die unregelmäßige Kurve der Seine hat etwas Schockierendes an sich!“ und ernsthaft vorschlug, die Seine zu begradigen. Letztendlich ist aber auch manches Gutes bei diesen Jahrhundertarbeiten herausgekommen: unter anderem wurde das Pariser Opernhaus (l’Opéra Garnier) gebaut, zahlreiche historische Gebäude wurden  renoviert, 600 km Kanalisation wurden verlegt, 32.000 Gaslaternen installiert, die bis 1920 auf 50.000 anwuchsen, von denen die letzten 15 bis 20.000 bereits mit elektrischer Beleuchtung ausgestattet waren. Parks wurden angelegt: vor allem im Westen der „Bois de Boulogne“, ein ehemaliges königliches Jagdrevier; 8,46 Quadratkilometer groß, das im Volksmund sofort zum „Hain der Reichen“ wurde. Im Osten wurde der neu
gestaltete „Bois de Vincennes“, der größere der beiden “Haine“, mit einer Fläche von 9,95 Quadratkilometern zum „Bois de Boulogne der Arbeiter“.

Der „Parc Monceau“, im 8. Arrondissement, ursprünglich im Besitz des Herzogs von Orléans, wurde während der Revolution beschlagnahmt und zum Volkseigentum erklärt. Nach einigem Hin und Her nach der Revolution ging der Park, in einem völlig verwilderten Zustand, in den Besitz der Stadt Paris über. Ein Teil des ursprünglichen viel größeren Parks wurde von der Stadt Paris an die „Crédit Mobilier“-Bank der Brüder Pereire verkauft. Diese
bauten um 1860 im Rahmen des Hausmann-Umbaus in diesem neuen Viertel der wohlhabenden Pariser mehrstöckige Luxuswohnungen, mit direktem Zugang zum im Stil eines englischen Gartens völlig neu
angelegten 0,082 Quadratkilometer großen Parks, Claude Monet – Le Parc Monceau (1878) von dem man fast annehmen konnte, er sei so etwas wie der exklusive Privatpark der Anrainer. Dieser Eindruck wurde umso mehr durch ein umgebendes gusseisernes Gitter und fünf mit reich verzierten, teilweise vergoldeten, schmiedeeisernen Toren, die ganz auf die wohlhabende Umgebung abgestimmt waren, fast noch bestätigt.

Neben der Finanzierung von Bauvorhaben investierte die Bank der Gebrüder Pereire u.a. auch in die städtische Gasbeleuchtung (und einige Jahre später in den Bau der Pariser Metro).

Haussmanns Pläne zur Umgestaltung von Paris wurden fast 20 Jahre lang fortgeführt, bis er 1870 von Kaiser Napoléon III. unter dem Druck öffentlicher Bedenken über Haussmanns finanzielle Misswirtschaft entlassen
wurde. Als Haussmann ging, waren seine Pläne noch unvollendet, hinterließen allerdings der Stadt Paris einen hohen Schuldenberg. In den 1860er Jahren hatte Paris durch Haussmanns Projekte eine Verschuldung von 2,5 Milliarden Francs angehäuft, weit über das Doppelte der ursprünglichen Kalkulationen. Mangels Statistiken aus dem XVIII. Jh., insbesondere der Inflationsrate, ist es nicht möglich, den genauen Gegenwert des Schuldenberges in Euro anzugeben. Einen besseren Eindruck dieser Summe bekommt man aber schon, wenn man weiß, dass der Betrag von zweieinhalb Milliarden Francs von 1860 ein Achtel, also 12,5% des Bruttosozialprodukts darstellte.

Kaiser Napoleon III. hätte Haussmann dennoch im Amt belassen, wenn die liberale Opposition im Parlament bei den Wahlen von 1870 nicht die Mehrheit erlangt und sich den Entscheidungen Haussmanns widersetzt hätte, bis es ihr gelungen wäre, ihn zu entlassen. Nichtsdestotrotz wurden die Bauprojekte von Haussmann von der neu
gewählten liberalen Regierung dann doch bis zu deren Fertigstellung fortgeführt. Zuständig für die Leitung der Projekte wurde jetzt der Architekt Adolphe Alphand, ein vormaliger Mitarbeiter von Haussmann. Die letzten Projekte, darunter der nach dem Baron benannte neue Boulevard Haussmann, wurden schließlich 1926 fertiggestellt.

Trotz der politischen, wirtschaftlichen, und sozialen Turbulenzen, die Frankreich 1870 und in den folgenden Jahren erfassten, und den von Haussmann verursachten Umwälzungen, blühten inmitten der jahrelangen massiven Umbauarbeiten Kunst und Literatur in Paris auf wie noch nie; man denke nur an die Maler des Impressionismus, um nur einige von ihnen zu nennen, Renoir, Manet, Monet, Degas, und an Post-Impressionisten wie Cézanne, Seurat, Caillebotte, Van Gogh, Gauguin und viele andere…

Und wer kennt nicht die Werke der französischen Literatur-Größen Balzac, Zola, Proust, Lamartine, usw.?

Leider war es auch die Zeit des weltweiten wirtschaftlichen Abschwungs und der Stagnation, die 1873 mit einer Finanzkrise in Österreich begann, gefolgt von einer Krise in den Vereinigten Staaten, die vor allem auf massive
spekulative Investitionen jeder Art und implodierenden Aktienmärkten zurückzuführen war. Wie zu erwarten, griff die Krise auf alle europäischen Länder über, siehe im Deutschen Reich den „Gründerkrach“. Selbst dem
Ottomanischem Reich blieb die Krise nicht erspart.

Infolgedessen litten nicht nur die Vereinigten Staaten, sondern alle europäischen Länder unter wirtschaftlichen Problemen (die so genannte „Lange Depression“), die in vielen der Länder bis 1914 andauerten. Dennoch, so sehr die „Auflockerung“ von Paris durch Haussmann der Stadt zugutekam, sie in die Moderne stieß, und allenthalben uns noch heute Perspektiven bietet, von denen eine angenehmer als die andere ist, seine „Durchschneidung des Zentrums“ hatte zur Folge, dass die Pariser Stadtteile wirtschaftlich stärker voneinander getrennt wurden:

Während zuvor Reiche und Arme oft in denselben Straßen oder in denselben Gebäuden lebten, gab es nun ein modernisiertes, wohlhabendes Paris im Westen und im Zentrum der Stadt, und eine benachteiligte, arme, in einigen Fällen mittellose Pariser Bevölkerung im Süden und vor allem im Norden der Stadt, wo die Ärmsten
so gut es ging, in Slumgebieten, sogenannten „Zones“ überlebten. Die angebliche Belle Époque („die Schöne Epoche“) gab es bei weitem nicht für jeden.

Doch der eine amüsiert sich „weil er es kann“, der andere, weil er seinen Alltag vergessen will. Und so öffnete ein Bistrot (oder „Bistro“), nach dem anderen seine Türen, gefolgt von Cabarets aller Arten, vom bürgerlichen Ausflugsziel, dem „Moulin de la Galette“, bis hin zur billigen Eckkneipe mit billigen Prostituierten.

« Le Chat Noir », Jacques Offenbach, « le Moulin Rouge »

1862 schrieb Alfred Delvau, der Chronist von Paris: „Die Cabarets und Salons sind nicht mehr, was sie mal [im XVIII. Jh. und bis zur Mitte des XIX. Jh.] waren. Sie sind „die Cafés und Salons der Demokratie [geworden]“, d. h. für jedermann [zugänglich], da ja bekannterweise die Aristokratie am 21. Januar 1793 guillotiniert wurde. Die Orte und die Bewohner haben sich geändert, aber die Gewohnheiten sind dieselben geblieben. Es sind nicht mehr dieselben Cabarets und Trinker, aber es sind immer noch Cabarets und Trinker. Wenn wir eine Geschichte der Pariser Cabarets und Cafés schreiben, sind wir gezwungen, eine Geschichte aller Klassen der Pariser Gesellschaft zu schreiben, von der höchsten bis zu der niedrigsten, von der edelsten bis zu der abscheulichsten.“

Die modernen Cabarets entstanden gegen Ende des XIX. Jahrhunderts, das heute noch bekannteste und oftmals als Vorreiter bezeichnete dieses neuen Typs war „Le Chat Noir“, in Montmartre, gegründet 1881 von Rodolphe Salis. Es war ein Ort wo sich hauptsächlich Künstler und Schriftsteller trafen, auftraten und sangen; Gedichte, politische oder gesellschaftliche Satire vortrugen, oder auch einfach nur um einen geselligen Abend zusammen beim Trinken und Tanzen zu verbringen.

Natürlich waren ebenfalls „leichte Mädchen“ aber auch Frauen der Gesellschaft unter den Gästen des „Chat
Noir“. Letztere suchten einen „exotischen Abend zu erleben“. Der Musikstudent und spätere Komponist Erik Satie unterhielt am Klavier, und verdiente sich so als Student sein Geld…Dauergäste waren unter vielen
anderen auch Claude Debussy (dafür bekannt, dass er arg viel trank), August Strindberg, Henri de Toulouse-Lautrec (der, wer weiß warum, den Spitznamen „die Teekanne“ bekam), Georges Seurat, Paul Signac, Victor
Hugo, Charles Cros, usw.

Seinen ersten „Publikumserfolg“ hatte der „Chat Noir“, mit der Ankunft des „Club des Hydropathes“, dem „Club der Wasserscheuen“, angeführt von dem Journalisten und Dichter Emile Goudeau. Die Gruppe behauptete, sie sei wasserscheu, und tränke ausschließlich Wein und Bier.

Es wurde schon am Eingang des „Chat Noir“ deutlich, was innen zu erwarten war. Gewährte doch der wie ein
Schweizer Gardist ausstaffierte Türsteher nur Einlass, nachdem er sich „vergewissert“ hatte, dass man weder
zu den „anrüchigen Pfaffen noch zum Militär“ gehörte. Wer in den Saal eintrat, wurde sofort ‚auf die Schippe‘ genommen. Insbesondere die Gäste, die zum ersten Mal dort waren. So konnte es passieren, dass ein Mann mit den Worten begrüsst wurde „Wie, haben’se Dich schon entlassen ??“, oder wenn ein Paar hereinkam: „N’abend Junge. Was hast Du denn mit der Süßen von gestern Abend gemacht?“ Als der Prinz von Wales, der künftige König Edward VII. eines Abends eintrat, rief Salis dem verdutzten Prinzen zu: „Unglaublich, Mann, wie Du dem Prinzen von Wales ähnlich siehst!“ Rodolphe Salis brachte ebenfalls „Le Chat Noir“ heraus, eine wöchentliche
Zeitung, in der bekannte Schriftsteller die im gleichnamigen Cabaret auftraten, Alphonse Allais, Emile Goudeau unter anderen, humoristische oder gesellschaftskritische Kurzgeschichten veröffentlichten. Gedichte, Ankündigungen vom „Chat Noir“ und satirische Zeichnungen rundeten den Inhalt ab.

Rodolphe Salis war auch der erste Cabaret-Eigentümer, der seine Truppe ab 1890 auf Tournee nahm, nicht nur in die französische Provinz, sondern auch nach Belgien, und in die französischen Kolonien Algerien und Tunesien. Er bereitete eine solche Tournee vor, als er plötzlich am 20. März 1897 im Alter von 45 Jahre verstarb. Kurz darauf schloss der “Chat Noir“ seine Türen. Zu der Zeit hatten längst mehrere Betriebe in Paris seinen Stil kopiert.

Während das Logo des „Chat Noir“ als Hintergrund für die Illustration des „Schwarzen Katze“-Titelblatts eine Hommage an den „Moulin de la Galette“ darstellt, war die “ Pfannkuchen Mühle“ zu dieser Zeit längst nicht mehr der allerletzte Schrei. Und jetzt war der „Chat Noir“ auch nicht mehr die letzte Mode. In der Zwischenzeit hatte 1889 ein neues Cabaret, geöffnet. Es war das „Moulin Rouge“, das noch heute vor allem durch seine „Cancan“-Aufführung berühmt ist.

Man muss jedoch bis in die 1820er Jahre zurückgehen, um die Ursprünge des French Cancan zu finden. Zu dieser Zeit waren sowohl öffentliche als auch private Bälle bei den Parisern sehr begehrt. Damals tanzte man den Modetanz „Quadrille“ mit einem Partner, und es gab keinen wirklichen Platz für Improvisationen. Aus der  „Quadrille“ entwickelte sich die „Pastourelle“. Einige Männer, die dieser vorschriftsmäßigen Steifheit beim Tanzen überdrüssig waren, begannen, bei der „Pastourelle“ sich ein paar Minuten Solo-Tanz zu gönnen, und ihrer Fantasie freien Lauf zu lassen. Diese Momente wurden als „Chahuts“ oder „Cancans“ bekannt. Es dauerte nicht lange, bis auch die Frauen mitmachten, und die Männer in ihrem Können weit übertrafen, und mit ihren eher gewagten Bewegungen Schockwellen auslösten.

Das hektische Gestikulieren der „Chahuts“ bzw. „Cancans“ wurde als obszön betrachtet, und 1832 gemäß des heute noch immer gültigen Paragrafen 330 des französischen Strafgesetzbuchs („Verletzung des öffentlichen Anstands“) verboten. Vergebliche Mühe!

Allgemein drückten die bei Bällen und in Tanzlokalen stets gegenwärtige Sitten-Wachtmeister vom Dienst wohlwollend ein Auge zu, aber wer’s zu bunt trieb, bekam eine Strafe, die bis zum Gefängnisaufenthalt gehen konnte. Seltsamerweise wurden die Tänzer meistens mit einer Warnung oder einer Geldstrafe entlassen, die Tänzerinnen hingegen landeten des Öfteren für ein paar Tage ins Gefängnis.

Das nächste Cabaret also, das eröffnet wurde, war das „Moulin Rouge“ (die Mühle auf dem Dach ist eine
Attrappe), und sofort finden wir unter der – trinkenden – Stammkundschaft wieder die üblichen Verdächtigen: Debussy, Satie, Dufy, Matissse, Seurat, unter anderen, und natürlich, allen voran: Henri de Toulouse-Lautrec, der uns dank seiner Poster-Zeichnungen, und seiner 17 im “Moulin Rouge“ geschaffenen Werke, ein umfangreiches Zeugnis des heiteren Treibens dort hinterlassen hat…und zum grossen Teil damit auch seine Zeche bezahlte.

„Le Moulin Rouge“ war 1889 auch das Ziel der Touristen aus der Provinz und aus aller Welt, die zu der
„Exposition Internationale de Paris 1889“ mit seinem neuen, als das höchste Gebäude der Welt
angepriesenem‚„300 Meter Turm“ (la tour de 300 m) – später „Eiffel-Turm“ getauft – und zu den Feierlichkeiten
zum 100. Jahrestag der Französischen Revolution gekommen waren.

Das erste Jahr war für das Cabaret, das sich anfangs wegen seines großen Gartens „Le Jardin de Paris“ nannte,
und als „Café-Concert“ bezeichnete, bereits erfolgreich. Die Attraktion war ein riesiger innen ersteigbarer Elefant, in dessen Bauch es für die Herren private…Bauchtanz-Vorführungen gab.

Berühmt wurde das „Moulin Rouge“ jedoch wirklich erst, als es den Cancan in seine Show aufnahm, den „Galop infernal“ (Höllen-Cancan), diesen berüchtigten und anzüglichen Tanz, dessen Musik ursprünglich 1858 von
Jacques Offenbach für seine bis heute zweifellos berühmteste Operette „Orphée aux Enfers“ (Orpheus in der Unterwelt) am 21. Oktober 1855 uraufgeführt wurde. Der englische Autor, Journalist und Offenbach-Biograf Peter Gammond schrieb 1980: „Zu den Gründen des Erfolgs von „Orphée aux enfers“ gehören die flotten Walzer und vor allem natürlich der Can-Can, der seit den 1830er Jahren oder so, ein unanständiges Leben in den unteren Kreisen geführt hatte und nun, so ungehemmt wie immer, zu einer höflichen Mode wurde.“

Über mangelnde Kundschaft konnten sich die Cabarets nicht beklagen. Trotz andauernden Problemen wirtschaftlicher, sozialer, und politischer Art in Frankreich, vergaßen die Franzosen nicht das Vergnügen. Drei Ereignisse kamen im Jahr 1900 noch hinzu: die Weltausstellung in Paris, die Eröffnung der innerhalb von nur 21 Monaten gebauten neuen 16,5 km langen Pariser „Métro“ (Linie 1) Strecke, und die Olympischen Spiele, ebenfalls in Paris. All dies kam natürlich dem Geschäft der Cabarets aller Arten, von gehoben bis schäbig, zugute, dank all der zusätzlichen Touristen-Kundschaft, darunter erstaunlich viel Amerikaner.

Ein anderes Cabaret, „Le Cabaret Bal Tabarin“ wurde 1904 von dem Komponisten und Orchesterleiter Auguste
Bosc (1868-1945) eröffnet. Der „Bal Tabarin“ wurde ein sofortiger Erfolg. Ganz Paris strömte herbei, um zum Rhythmus der Partituren zu tanzen, die mit verschiedenen Geräuschen wie Autohupen und Revolverschüssen
untermalt waren, oder um an Kostümbällen oder Blumenschlachten oder um an fantasievollen Wettbewerben
teilzunehmen.

Als das Moulin-Rouge 1915 durch einen Brand innen zerstört  wurde, lud Auguste Bosc die Cancan Tänzerinnen des „Moulin Rouge“ zu sich ein – und trug damit zusätzlich zum Aufschwung des „Bal Tabarin“ bei. 1928 übernahm Pierre Sandrini, ehemaliger künstlerischer Leiter des Moulin Rouge, die Leitung des „Tabarin“ in Pigalle, in dem unter vielen anderen Künstlern Josephine Baker und Django Reinhardt auftraten. Nach dem Krieg wurde das „Bal Tabarin“ von den Eigentümern des „Moulin Rouge“ übernommen, die es nach ein paar Jahren 1953 schlossen. Das erstaunliche, leerstehende Gebäude mit seiner kunstvollen, von einer Leier  gekrönten Fassade und zahlreichen Skulpturen wurde 1966 abgerissen, und durch ein unscheinbares Wohngebäude ersetzt.

„Heute ist der Name selbst fast völlig vergessen. Von den Shows sind nur noch Schwarz-Weiß-Fotos und einige Stummfilme übriggeblieben, die ein wenig verwackelt sind. Was die Kunden betrifft, so sind die meisten inzwischen tot und begraben („Le Monde“, 26. August 2022).“

Doch zurück zu den 1910er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts.