Patina-Diskussion führt Charta von Turin ad absurdum

Erhaltenswerte Patina oder behandlungsbedürftiger Rost? Die Charta von Turin, seit einem Jahr in Kraft, sorgt für kontroverse Diskussionen in der Oldtimer-Fangemeinde. Grund: Die weltweite Regelung rund um historische Fahrzeuge bevorzugt Bewahren gegenüber Restauration mit modernen Mitteln. Das führt immer wieder zu Praxisproblemen beim Oldtimer-Gutachten.

Seit einem Jahr ist die Charta von Turin in Kraft. Sie soll weltweit eine einheitliche Grundlage für Entscheidungen bieten, die im Zusammenhang mit Oldtimern stehen. In einem Punkt sorgt das Regelwerk jedoch eher für Diskussionen: Dass die Charta bei Patina grünes Licht gibt und professionell restaurierten Fahrzeugen eher die gelbe Karte zeigt, führt zu Kontroversen bei der H-Zulassung. Immer wieder kommen schlecht oder gar nicht restaurierte Fahrzeuge zur Begutachtung. Vergilbter Lack, zerschlissenes Leder, brüchige Vinyldächer oder schlichtweg Rost sollen mit Hinweis auf den Patina-Primat nicht negativ zu Buche schlagen. Aus Sicht von TÜV SÜD eine falsche Auslegung der Charta. Matthias Gerst, Oldtimer-Experte von TÜV SÜD: „Oldtimer-Fans wollen gut erhaltene, gepflegte oder professionell restaurierte Fahrzeuge sehen – dafür gibt es den Status als historisches Fahrzeug. Rost und Schimmel haben mit Patina nichts zu tun.“ 

Praxis contra Patina

Der größte Unterschied zwischen der Praxis bei der H-Zulassung und der Charta von Turin wird bei Komplettrestaurierungen deutlich. Sogenannte „Renovierungen“ sieht die Charta nämlich eher kritisch. Zwar wird eingeräumt, dass auch moderne Ersatzmaterialien und Techniken zum Einsatz kommen dürfen – beispielsweise zum Konservieren. Originalmaterialien und zeitgenössische Methoden sollen jedoch Vorfahrt haben. „Viele Autos brauchen eine umfassende Restaurierung – teilweise sogar mit Neuteilen – um überhaupt wieder im Straßenverkehr bewegt werden zu können. Die kann man nicht mit Patina retten“, so Gerst. Dementsprechend lassen die Zulassungsvoraussetzungen für das H-Kennzeichen ausdrücklich auch neue Komplettrahmen zu, wie sie beispielsweise für Citroën 2CV oder MG B im Angebot sind und vom jeweiligen Hersteller lizensiert wurden. 

Sicherheit geht vor

Konservierung, Schutz, Sicherheit und Werterhalt: Aus Expertensicht sind in vielen Fällen moderne gegenüber historischen Materialien vorzuziehen. Das gilt ganz besonders für Bremsanlagen, Kolben oder auch Lacke. „Eine über die Jahre verblasste Motorhaube aufzuarbeiten und zu konservieren, dagegen ist nichts einzuwenden. Allerdings sind unter kalifornischer Sonne ‚verbrannte‘ Lacke damit nicht gemeint. In solchen Breiten ist der Lack quasi ein Verschleißteil. Die Ideen der Charta sind eine sinnvolle Ergänzung zur H-Zulassung, die wiederum der Alltagstauglichkeit bei Einhaltung der Originalität klar den Vorzug gibt. Autos müssen sicher sein und den heutigen Anforderungen des Straßenverkehrs standhalten“, sagt Matthias Gerst. Mit allen Konsequenzen für die Restauration und den Werterhalt. Für die fachgerechte Restauration steht heutzutage eine ganze Palette von neuen Originalteilen zur Verfügung.

Massenware schützen

Bei allen Diskussionen rund um Patina: Die Charta von Turin will die Geschichte, das Design, die Technik und die Funktion erhalten und alle gesellschaftlichen Einflüsse von Fahrzeugen dokumentieren. Dazu gehören ausdrücklich die ersten Massenfabrikate wie Käfer und Rekord und Cinquecento. So sieht es auch TÜV SÜD: „Wir begrüßen die Charta von Turin. Sie ist in vielerlei Hinsicht wertvoll und auch vereinbar mit den Kriterien für die H-Zulassung. Doch wenn’s um die Sicherheit geht, dürfen keine Abstriche gemacht werden“, unterstreicht Oldtimer-Liebhaber Gerst.