von Malte Jürgens
Als Gottlieb Daimler 1885 seinen Reitwagen von Cannstatt nach Untertürkheim auf den Weg brachte, war es sein ältester Sohn Paul, dem diese Testfahrt am 10. November oblag. Im halsbrecherischen Tempo von 12 km/h jagte der Junior über das Pflaster, die eisenbeschlagenen Holzräder schlugen Funken, aber das Motorrad hielt durch und mit ihm der erste aufgeladene Motor der Kraftfahrzeug-Geschichte. Daimler hatte den scherzhaft „Standuhr“ genannten Einzylinder mit einer Ladepumpe konstruiert: Auf seinem Weg zum unteren Totpunkt komprimiert der Kolben die Luft im Kurbelgehäuse, die dann vorverdichtet durch ein Ventil im Kolbenboden (!) in den Brennraum gelangt und damit Füllung und Leistung der Maschine verbessert. Paul Daimler, kurz PD, damals sozusagen Geburtshelfer der Kompressor-Technik, sollte als ausgebildeter Ingenieur das Prinzip der Aufladung sein Konstrukteursleben lang begleiten, immer wieder angewendet bei seinen Motoren für Autos, für Flugzeuge und etwa auch für U-Boote.
Bücher von Harry Niemann, dem langjährigen Leiter der Archive und Sammlung der Daimler AG, gehören schon bei ihrer Neuerscheinung zu den Klassikern: Trotz vieler technischer Details sehr gut lesbar formuliert, kenntnisreich und faktenstark im Inhalt, dazu dank umfassender Recherche im höchsten Grad verlässlich. Seine Auto-Biographien über Wilhelm Maybach, dessen Sohn Karl und über Gottlieb Daimler stehen längst im Rang profunder Nachschlagewerke. Das jetzt im Motorbuch Verlag Stuttgart erschienene Kompendium „Paul Daimler – König des Kompressors“ setzt dem 1869 geborenen Sohn des Automobil-Erfinders Gottlieb Daimler nun ein ganz besonderes Denkmal: Niemann konnte bei der Recherche nicht nur auf das Daimler-Archiv und seine beschlagenen Historiker zählen, sondern auch auf die Erfahrungen, Kenntnisse und Quellen der Mitglieder des Mercedes-Benz Kompressor Clubs (MBKC).
Der Berliner Klaus Schildbach etwa, Herausgeber des Buchs, erwarb 2009 für seine Mercedes-Sammlung den gesamten Nachlass des 1945 in Berlin verstorbenen Paul Daimler. Damit besitzt er eine Quelle, die nicht einmal in den Daimler- Archiven zu finden ist. MBKC-Präsident Dieter Dressel öffnete ebenfalls seine umfangreiche Bibliothek, und die Mercedes-Sammlerin Anke Rückwarth knüpfte die nötigen Kontakte, um die noch erhaltenen Automobile aus der Ideenwerkstatt von Daimler junior etwa ins rechte Licht der Top-Fotografen wie René Staud und Michel Zumbrunn zu rücken.
Die PD-Biografie wird damit zu einer Fundgrube mit unerwartet vielen Schichten. Da sind natürlich die Mercedes Rennwagen wie der GP Sieger von 1908 mit mehr als 13 Liter Hubraum, das siegreiche Trio der OHC-Vierventiler mit 4,5 Litern Hubraum beim GP Frankreich von 1914 oder der sportliche 28/95 als Vorläufer der späteren großen Kompressor-Modelle ab 1923. Da ist der 1,5 Liter Rennwagen für die Targa Florio 1922, der erste speziell für den Kompressorbetrieb gefertigte Bolide mit DOHC-Motor und vier Ventilen pro Zylinder vom Typ 6/40/65 (sechs Steuer-PS, 40 ohne und 65 mit Kompressor). Bei seinem Debüt holt er auf Anhieb Platz drei. Da ist der erste Flugmotor von 1916 mit einem per Kette angetriebenen Wittig-Verdichter und seine Nachfolger mit Roots-Gebläsen, die selbst in 6000 Metern Höhe dank Aufladung keinen Leistungsverlust mehr zu verzeichnen haben.
Da ist aber auch der Krach mit Vorständen der Daimler-Motoren-Gesellschaft DMG, der Abgang im Zorn und der Wechsel zu Horch. Dort schuf Paul Daimler unter anderem im Reinickendorfer Konstruktionsbüro für die Berliner Argus-Werke den ersten deutschen Achtzylinder-Motor sowie einen Sechsrad-Geländewagen für das Militär, bei dem er auf eigene Allrad-Entwicklungen für die DMG zu Anfang des Jahrhunderts zurückgreifen konnte. Die nötigen Informationen über Daimlers Horch-Zeit steuerten die hochrangigen Auto-Union-Spezialisten Peter Kirchberg und Jürgen Pönisch bei.
Neben der Technik wirft Niemann auch elegant und fast wie nebenbei Schlaglichter auf den Umgang des übrigen DMG-Vorstands mit seinem Technik-Chef Paul Daimler: Der Begriff Mobbing wurde damals zwar noch nicht verwendet, was er bedeutet, traf PD dafür aber umso mehr. Daimler, der nur selten für sein Auskommen, dafür aber stets für seine Rechte als Techniker eintrat, zoffte sich nach Abschluss seiner Konstrukteurskarriere sogar noch mit dem NS-Propagandachef Goebbels. Der hatte in seiner Rede auf einer Preisverleihung 1938 Ferdinand Porsche zum Erfinder des aufgeladenen Mercedes-Motors hochgelobt. Auf Daimlers korrigierenden Brief an den Propagandachef ließ der nur antworten: „Der Minister irrt sich nicht“, worauf zum 65. Geburtstag Porsches (1940) die falsche Nachricht noch einmal verbreitet wurde. PD muss getobt haben.
Auf diese Biographie des vielseitigen Paul Daimler haben nicht nur die Mercedes-Fans lange gewartet. Jetzt liegt sie als tolles, vielschichtiges Autobuch aus der Pionierzeit der Kraftfahrt vor. Der neue Niemann ist ein Werk wie ein Kompressormotor: aufgeladen, und zwar mit Qualität und Tiefe.
Fakten:
- Autor: Harry Niemann
- Titel: Paul Daimler – König des Kompressors
- ISBN 978-3-613-04267-4
- 272 Seiten
- 358 Abbildungen
- Preis: 49,90 €
Info des Verlages:
Cugnot Award für »Paul Daimler – König des Kompressors«
Der Motorbuch Verlag freut sich über den Nicolas-Joseph Cugnot Award 2020 für »Paul Daimler – König des Kompressors«!
Der Band von Dr. Harry Niemann gewinnt den Preis der Society of Automotive Historians in der Kategorie books in language other than English.
Das Komitee war vor allem von der Detailgenauigkeit und Qualität der Darstellung eines Bereichs der Automobilgeschichte beeindruckt, der bisher noch nicht Gegenstand einer größeren Veröffentlichung war: »Paul Daimler« widmet sich dem Leben Paul Daimlers, dem Entwickler der Kompressormotoren.
Der Cugnot Award wird jährlich von der Society of Automotive Historians vergeben. Er zeichnet Bücher aus, die sich durch ihren Stil und Forschungsaufwand im Dienste der Automobilgeschichte verdient gemacht haben.