- Zweiter Gesamtsieg in Folge für Mercedes-Benz bei der 90-Stunden-Rallye
- Die damals neue SL-Baureihe W 113 stellt ihre sportlichen Fähigkeiten eindrucksvoll unter Beweis
Stuttgart – Von Belgien nach Bulgarien und zurück, 5.500 Kilometer in 90 Stunden: Durch Tag und Nacht steuert Eugen Böhringer vom 27. bis 31. August 1963 den roten Mercedes-Benz 230 SL (W 113), fegt über schmale Passstraßen und braust ferne Autobahnen entlang. Er fährt mit Kopilot Klaus Kaiser dem Gesamtsieg beim „Marathon de la Route“ entgegen, der renommierten belgischen Langstreckenrallye. Bereits 1962 hat Böhringer, der in jenem Jahr Rallye-Europameister wird, die „Liège–Sofia–Liège“ gewonnen, damals mit Hermann Eger als Beifahrer auf Mercedes-Benz 220 SE (W 111).
1963 startet Böhringer mit einem brandneuen Fahrzeug: Der Mercedes-Benz 230 SL, wegen seines nach innen gewölbten Hardtops „Pagode“ genannt, ist Nachfolger für die beiden Typen 190 SL (W 121) und 300 SL (W 198). Beim „Marathon de la Route“ soll der elegante Roadster, zugleich der erste Sportwagen überhaupt mit Sicherheitskarosserie, nun seine Eignung für den Sporteinsatz unter Beweis stellen. Böhringers SL mit der Startnummer 39 basiert auf einem Vorserienfahrzeug. Es hat die in dieser Ära typischen Modifikationen für den Rallye-Einsatz, beispielsweise Verstärkungen am Fahrwerk und größere Tanks. Außerdem erhält der Rallye-Wagen ein fest mit der Karosserie verbundenes Hardtop. Der Motor leistet aufgrund eines größeren Hubraums im Vergleich zum Serienmotor (2,6 statt 2,3 Liter) rund 20 PS (15 kW) mehr. Insgesamt stehen somit um die 170 PS (125 kW) und auch mehr Drehmoment zur Verfügung. Die Mercedes-Benz Versuchsabteilung bereitet den 230 SL unter der Leitung von Erich Waxenberger für den Rallye-Einsatz vor. Nach dem Sieg ist das Fahrzeug dann auf der Internationalen Automobil-Ausstellung (IAA) in Frankfurt am Main im Herbst 1963 inklusive aller Spuren der Rallye zur offiziellen Deutschland-Premiere des W 113 auf dem Stand von Mercedes-Benz zu sehen.
Der Motorsportgemeinde fällt es noch schwer, die Chancen des neuen Roadsters einzuschätzen. So schreibt das britische Magazin „Autosport“ am 6. September 1963: „Als Gewinner des letzten Jahres startete Eugen Böhringer unter den Favoriten des Marathon de la Route 1963. Aber der Umstand, dass er einen neuen, in Wettbewerben noch nicht erprobten Wagen fuhr, ermutigte seine Unterstützer nicht gerade.“ (“As last year’s winner, Eugen Böhringer started among the favourites for the 1963 Marathon de la Route, but the fact that he was driving a new car, as yet untried in competition, did not particularly encourage his supporters.”)
Doch der 1922 geborene Hotelier Böhringer widerlegt alle Zweifel. Von Spa führt die Route über das Saarland, Baden-Württemberg und Bayern nach Österreich und weiter über Italien nach Jugoslawien. Rumänien bietet lediglich den kurzen Abstecher nach Sofia mit kurzem Halt. Dann geht es zurück nach Jugoslawien und wieder nach Italien, wo die anspruchsvollsten Alpenpässe der Rallye warten.
Schon bei Dubrovnik hat Böhringer auf dem Rückweg einen leichten Unfall, der ihn aber nur zwei Minuten kostet. „Eugen Böhringer verformte den schönen 230 SL leicht, fuhr aber mit Druck weiter“ (“Eugen Böhringer slightly reshaped the beautiful 230 SL but pressed on”), schreibt „Autocar“ über den Zwischenfall. Vor Rovereto liegen Böhringer und Kaiser dicht hinter Rauno Aaltonen und Tony Ambrose auf Austin-Healey. Auf dem Vivione-Pass kommen Aaltonen und Ambrose von der Straße ab, Böhringer setzt den 230 SL an die Spitze des Feldes und hält die Position bis zum Ziel in Belgien.
Es ist ein harter Wettbewerb. „Während den Behörden offiziell ein gemächlicher Touristen-Korso vorgegaukelt wurde, bekamen die Teilnehmer rechtzeitig eine korrigierte Marschtabelle zugeschickt“, blickt die Zeitschrift „auto motor und sport“ 1982 in einem Porträt über Böhringer auf die Gepflogenheiten beim „Marathon de la Route“ zurück. Was hinter dieser Korrektur steckt, macht bereits die Statistik deutlich: 129 Fahrzeuge gehen 1963 an den Start, aber nur 20 davon kommen ins Ziel.
Umso eindrucksvoller ist der Sieg von Eugen Böhringer und Klaus Kaiser. Denn sie erreichen Lüttich mit nur 8 Strafminuten. Dazu schreibt das britische Magazin „Autocar“ nach der Rallye: „Die Königliche Motor Union von Lüttich hatte eine mörderische Geschwindigkeit für diesen Rallye-Klassiker vorgegeben, aber Böhringers phantastische Leistung hat sie erschüttert“ (“The Royal Motor Union of Liège set a murderous pace for their classic event and Böhringer’s fabulous performance shook them rigid”).
„Seine Konkurrenten fürchten ihn, weil er immer an die äußerste Grenze geht, immer alles riskiert, von sich und von Klaus Kaiser und von dem Mercedes-Benz 230 SL, den sie bei der Rallye fahren, in jeder Sekunde das Letzte, das Äußerste, das gerade noch Mögliche fordert“, schreibt die Illustrierte „Kristall“ im Herbst 1964 in einer Reportage über Böhringer und den „Marathon de la Route“. Gefragt nach den Gefahren der Rallye, antwortet Böhringer dem Interviewer, dass 80 Prozent des schnellen Fahrens auf öffentlichen Straßen „durchaus kalkulierbares Risiko“ sei. Und was gelte für die anderen 20 Prozent, fragt Kristall-Chefreporter Rolf Winter zurück? „Ha no!, die Umschtänd halt“, antwortet der Mercedes-Benz Werksrennfahrer in bestem Schwäbisch: Das hänge von den Umständen ab.
Der im Juni 2013 gestorbene Eugen Böhringer wird immer als zweifacher Sieger des „Marathon de la Route“ in Erinnerung bleiben. Fast hätte der Hotelier aus Stuttgart sogar drei Siege in Folge geschafft. Doch bei der letzten Auflage der Rallye im Jahr 1964 kommt er nur auf Platz 3 ins Ziel. Die Organisatoren ehren ihn 1964 dennoch mit einem Spezial-Pokal für zwei Siege und zwei exzellente Platzierungen in vier aufeinander folgenden Jahren.