Historische Automobile hingegen sind seltene Gäste dort. Denn ihre Entwicklung ist lange abgeschlossen. Doch nicht in allen Fällen sind für sie Windkanal-Messwerte verfügbar oder diese sind mit heutigen Untersuchungen nicht vergleichbar. Aus historischem Interesse hat Mercedes-Benz Classic deshalb im Januar 2012 zwei SL-Baureihen im unternehmenseigenen Windkanal auf dem Werksgelände in Stuttgart-Untertürkheim mit modernen Messmethoden untersuchen lassen – den ersten SL (Baureihe W 194) aus dem Jahr 1952 sowie den 1954 präsentierten Seriensportwagen 300 SL (W 198 I). Um insbesondere zum ersten SL ein zeitgenössisches Vergleichsfahrzeug zu haben, wurde zudem ein Mercedes-Benz 300 S (W 188) aus dem Jahr 1951 untersucht, ein sportlich-luxuriöser Reisewagen. Dieser spendiert dem ersten Nachkriegssportwagen von Mercedes-Benz Teile seiner Technik.
Der Windkanal in Stuttgart-Untertürkheim ist selbst schon historisch: Schließlich geht er zurück auf die 1930er-Jahre und das legendäre FKFS-Institut (Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen und Fahrzeugmotoren Stuttgart) des für die Aerodynamik nicht weniger bedeutenden Stuttgarter Professors Wunibald Kamm. Konzipiert ist er nach sogenannter Göttinger Bauart mit dreiviertel offener Messstrecke. Mitte der 1970er-Jahre übernimmt die damalige Daimler-Benz AG den Windkanal. Heute ist er eine von mehreren Messeinrichtungen dieser Art des Konzerns.
Ein spannendes Mess-Szenario
Der Morgen des 23. Januar 2012: Die drei Fahrzeuge stehen bereit. Die zu ihren Arbeitsplätzen eilenden Mitarbeiter des Mercedes-Benz Werks Untertürkheim ahnen nichts vom emsigen Betrieb hinter den Mauern des Windkanals. Acht Stunden wird der 5 Megawatt starke Elektromotor die Luftschaufeln der Turbine antreiben, um 9.000 Kubikmeter Luftvolumen in Bewegung zu setzen.
Die drei Fahrzeuge werden aus Gründen der unmittelbaren Vergleichbarkeit ohne Unterbodenverkleidungen gemessen. Ohnehin werden die drei Klassiker heutzutage im Straßenverkehr meist ohne Unterbodenverkleidung bewegt, um leichter an Servicepunkte zu kommen, und damit der Innenraum sich weniger aufheizt.
Folgendes Programm ist vorgesehen: Die cW-Werte werden als 10-Punkt-Messungen jeweils mit Anblasgeschwindigkeiten von 130 km/h und 200 km/h aufgenommen. Darüber hinaus werden die Fahrzeugstirnfläche (A) sowie Vorderachs(cAV)- und Hinterachs(cAH)-Auftriebsbeiwerte ermittelt.
Dieser Tag wird spannend werden. Schon bei der ersten Messung des Typ 300 S schwirren die unterschiedlichsten Werte als Mutmaßungen durch die Halle – durchweg hohe Schätzwerte aufgrund des Fahrzeug-Designs, das eine vergleichsweise große Fläche gegen den Wind stellt. Der Wert der Stirnfläche von 2,28 Quadratmetern des 300 S, ermittelt mit Außenspiegel, sorgt somit noch für keine Überraschung. Dass dann kein Schätzwert zutreffen wird, ahnt niemand. Konzentration herrscht auf der Kommandobrücke des Windkanals.
Als aus dem Ticker für den 300 S die ersten Luftwiderstands-Messwerte im Mittel von cW = 0,468 bei 130 km/h Anblasgeschwindigkeit und von cW = 0,482 bei 200 km/h ausgedruckt werden, geht ein anerkennendes Raunen durch den Raum. Zum Vergleich: Das 1955 und damit vier Jahre nach dem 300 S erschienene 190 SL (W 121) kommt mit Hardtop auf einen cW-Wert von 0,461 und der Mercedes-Benz 230 SL (W 113) aus dem Jahr 1963, die berühmte „Pagode“, auf cW = 0,515. Somit steht der Mercedes-Benz 300 S sehr gut da.
Der cW × A-Wert, die Zusammenfassung der Stirnfläche A und des Luftwiderstandsbeiwerts cW der Karosserieform, beträgt beim Typ 300 S 1,067 bzw. 1,100 mit Anblasgeschwindigkeiten von 130 km/h bzw. 200 km/h.
Da die Auftriebswerte bei 130 km/h Anblasgeschwindigkeit für die Vorderachse (cAV = 0,268) und für die Hinterachse (cAH = 0,270) sich nur unwesentlich voneinander unterscheiden, ergeben sich keine Nickmomente und somit eine stabile Fahrzeuglage. Bei 200 km/h Anblasgeschwindigkeit erfolgt beim 300 S eine stärkere Entlastung der Vorderachse mit resultierenden Auftriebsbeiwerten von cAV = 0,293 und der Hinterachse cAH = 0,267. Doch sind diese beiden eher theoretischer Natur, denn der 300 S hat eine Höchstgeschwindigkeit von 175 km/h.
Der 300 SL im Windkanal
Dass die Stirnfläche mit 1,784 Quadratmetern um 22 Prozent geringer ist als beim 300 S wundert nicht. Schließlich ist die Reduzierung der Luftwiderstandsbeiwerte einer der Hauptpunkte im Lastenheft für die Konstruktion des Rennsportwagens. Die cW-Werte 0,376 (Anblasgeschwindigkeit 130 km/h) und cW = 0,383 (200 km/h) sind fast 20 Prozent günstiger als beim 300 S. Beim für die Fahrleistungen wichtigeren cW × F-Wert (Multiplikation der Fahrzeugstirnfläche mit der aerodynamischen Güte der Karosserie, dem Luftwiderstandsbeiwert) von 0,670 und 0,683, je nach Anblasgeschwindigkeit, ist der 300 SL der Baureihe W 194 sogar 37 Prozent günstiger als der Typ 300 S.
Die Auftriebswerte an der Vorderachse von cAV = 0,305 und 0,318 sowie an der Hinterachse mit cAH = 0,149 und 0,140 zeigen eine deutliche Entlastung der Vorderachse bei hohen Geschwindigkeiten.
Zugleich zeigen die Werte aber auch, wie weit die bisher bekannten Messungen aus den 1950er-Jahren eines Tonmodells des W 194 im Maßstab 1 : 5 von cW = 0,25 von der Realität entfernt sind – und welchen großen Einfluss beispielsweise die Motorraumdurchströmung auf den Luftwiderstandsbeiwert hat, die beim Tonmodell ja nicht vorhanden ist.
Dafür überrascht bei den jetzigen Windkanalmessungen nun wieder der serienmäßige 300 SL (W 198 I). Der ist mit einer Stirnfläche von 1,757 Quadratmetern sogar etwas zierlicher ausgefallen als der 300 SL (W 194) von 1952 und kann damit einen Teil seines ungünstigeren cW-Wertes gegenüber dem Rennsportwagen (W 194) von 1952 beim cW × A-Wert kompensieren. Die cW-Werte liegen bei 0,389 und 0,397, je nach Anblasgeschwindigkeit von 130 km/h und 200 km/h, die cW × A-Werte bei 0,685 und 0,697.
Neben den schieren Messwerten gibt es die Erkenntnis, dass gerade die beiden SL-Typen an der Vorderachse einen besonders starken Auftrieb generieren, der bei steigenden Geschwindigkeiten zu sich verstärkendem Auftriebsverhalten führt, was in der Folge auch zu verstärkter Seitenwindempfindlichkeit führt. Das wird durch die hohen Giermomente bei 20 Grad Schräganströmung untermauert.
Beim Typ 300 S (W 188) zeigen die Untersuchungen einen starken Strömungsabriss an der Oberkante der Kühlermaske, der bis zur Windschutzscheibe spürbar bleibt. Dagegen ist der Übergang von der Frontscheibe zum Dach besser als erwartet. Allerdings reißt die Strömung etwa 30 bis 50 Millimeter oberhalb der Heckscheibe ab, um anschließend auf dem Kofferraumdeckel wieder anzuliegen.
Bei beiden SL-Typen erfolgt eine gute Überströmung des Vorderwagens. Allerdings sind die Karosserie-Unterkanten zu hoch, hier besonders beim W 194, und schirmen den Unterboden nicht ab, mit der Folge hoher Auftriebswerte an der Vorderachse. Windschutzscheibe, A-Säule und Dach werden sauber umströmt. Dafür reißt sie an der Gummieinfassung der Heckscheibe ab, hier wieder besonders stark beim W 194, um später wieder auf dem Kofferraumdeckel anzuliegen.