Vor 60 Jahren beginnt ein prägendes Kapitel der Mercedes-Benz
Nutzfahrzeuggeschichte: Am 5. März 1959 stellt die Marke in Stuttgart die neuen „Kurzhauber“-Lastwagen vor, zunächst die Typen L 322 und L 327 (mittelschwere Klasse) sowie L 337 (schwere Klasse). Die Kurzhauber sind international überaus erfolgreich und wichtig für die Strategie der damaligen Daimler-Benz AG zur Internationalisierung nach dem Zweiten Weltkrieg. Sie werden bis in die 1990er-Jahre gebaut. Insgesamt entstehen fast eine Million Kurzhauber – entweder als kompletter Lastwagen oder als Teilesatz zur Auslandsmontage.
Mercedes-Benz schlägt 1959 mit der völlig neuen Lastwagen- Generation einen erfolgreichen Mittelweg ein: Die klassischen Nutzfahrzeuge mit langer Motorhaube und freistehenden Kotflügeln werden nicht auf einen Schlag durch Frontlenker mit komplett unter dem Fahrerhaus angeordneten Motor abgelöst, sondern durch die so genannten „Kurzhauber“. Dabei rückt der Motor nur teilweise unter die Kabine, und das Fahrzeug hat eine markante Front mit kurzer, runder Haube. Das Design der Kurzhauber mit integrierten Scheinwerfern und Kotflügeln greift deutlich Stilelemente der Mercedes-Benz „Ponton“-Limousinen der Epoche auf.
Der Presse stellt Mercedes-Benz die Kurzhauber-Lastwagen am 5. März 1959 in Stuttgart mit den Typen L 322, L 327 und L 337 vor. Die beiden ersten gehören der mittelschweren Klasse an, die im Werk Mannheim gebaut wird.
Der L 337 mit rund 300 Millimeter längerer Haube gehört zur schweren Klasse und wird im Werk Gaggenau produziert. Die neuen Typen sind wie schon ihre Vorgänger ab Werk auch als Frontlenker (LP) erhältlich. Das P in der Typbezeichnung steht dabei für Pullman und verweist auf die vergleichsweise komfortabel ausgestatteten und geräumigen Frontlenker-Fahrerhäuser. Die Frontlenker-Bauweise überzeugt durch geringe Fahrzeuglänge und hohe Wendigkeit gegenüber Haubenfahrzeugen mit gleicher Nutzfläche und Nutzlast. Noch ist aber die Geräusch- und Wärmeemission durch den unter der Kabine liegenden Motor sehr hoch, und ohne die erst Jahre später eingeführte kippbare Kabine ist die Zugänglichkeit des Motors für Wartungsarbeiten schlecht.
Optimaler Kompromiss
Da ist die Kurzhauber-Bauweise der optimale Kompromiss zwischen klassischem Hauben-Lkw und Frontlenker: Der 1961 vorgestellte Kurzhauber L 328 (ab 1963 nach einer Änderung der Typenbezeichnungen L 911) hat gegenüber dem vergleichbaren Langhauber L 312 einen um 2.400 Millimeter kleineren Wendekreis. Gleichzeitig machen sich in der Kabine Geräusch und Wärme des Motors weniger stark bemerkbar als beim Frontlenker LP 328/LP 911. Es gibt genug Platz für einen dritten Sitz zwischen Fahrer und Beifahrer. Schließlich ist der Motor für Wartungsarbeiten besser zugänglich. Mercedes-Benz beschreibt die Vorzüge in der Pressemappe zur Internationalen Automobil-Ausstellung in Frankfurt am Main (IAA, 17. bis 21. September 1959) so: „Das in vier Punkten in Gummi aufgehängte, moderne Ganzstahlfahrerhaus mit Dreh- und Kurbelfenstern hat eine große, einteilige Panorama-Windschutzscheibe und zwei Rückwandfenster aus Sicherheits-Hartglas. Der Motorraum ist gegen das Fahrerhaus fest abgeschlossen und schirmt alle Motorgeräusche einwandfrei ab. Sämtliche Wartungsarbeiten an dem gut zugänglichen Motor werden von außen durchgeführt.“
Die Entwicklung der Kurzhauber-Lastwagen vermittelt zwischen neuen gesetzlichen Anforderungen und dem Vertrauen der Kunden in die bewährte Mercedes-Benz Nutzfahrzeug-Technik. Denn Haubenlaster sind beliebt, gelten Kritikern aber als zu lang und zu schwer. Das will der damalige deutsche Bundesverkehrsminister Hans-Christoph Seebohm Mitte der 1950er-Jahre ändern. Am 22. März 1956 wird im Bundesgesetzblatt die „Verordnung zur Änderung der Straßenverkehrs-Zulassungs-Ordnung und der Straßenverkehrs- Ordnung (Abmessungen und Gewichte)“ mit Gültigkeit vom 21. März 1956 (umgangssprachlich „Seebohm’sches Gesetz“) veröfffentlicht. Sie hat erhebliche Auswirkungen. Für ab dem 1. Januar 1958 neu zugelassene Lastwagen und Anhänger sollen die Gesamtlänge (für Sattelzüge 13 Meter und für Lastzüge 14 Meter statt bisher 20 Meter) sowie das zulässige Gesamtgewicht (als Standard maximal 24 Tonnen statt bisher 40 Tonnen) drastisch beschränkt werden.
Auf diese Herausforderung reagiert Mercedes-Benz unter anderem durch die Entwicklung des Frontlenker-Typs LP 333, einem von 1958 bis 1961 gebauten, dreiachsigen 16-Tonner mit zwei gelenkten Vorderachsen, im Volksmund „Tausendfüßler“ genannt. Dieses vergleichsweise leichte Dreiachs-Fahrzeug nutzt geschickt die Vorschriften für Zugfahrzeug-Gewichte aus: Während zweiachsige Lastwagen nur noch zwölf Tonnen wiegen dürfen, hat der LP 333 ein zulässiges Gesamtgewicht von 16 Tonnen. Wird er mit einem vor dem Januar 1958 zugelassenen Anhänger kombiniert, liegt das erlaubte Gesamtgewicht des Zuges bei 32 Tonnen. Das ergibt eine Nutzlast von mehr als 20 Tonnen.
Minister Seebohm revidiert nach starken Protesten schon 1957 den Zeitplan für seine Reform. 1960 rückt er auch von den ausgeprägtesten Einschränkungen wieder ab. Dennoch ist für die deutschen Nutzfahrzeughersteller Mitte der 1950er-Jahre deutlich geworden, dass künftige Fahrzeuge effizienter mit Länge und Nutzlast umgehen müssen als
die bisherigen Haubenlastwagen.
Weltweites Erfolgsmodell
Die Mercedes-Benz Kurzhauber-Baureihen setzen diese schwierigen
Rahmenbedingungen ausgesprochen erfolgreich um. Es gibt sie als
Pritschenlastwagen, Kipper und Sattelzugmaschine, mit Allradantrieb und in der schweren Klasse auch mit drei Achsen. Die Kurzhauber-Fahrgestelle werden für Feuerwehr und Kommunaldienste wie etwa Straßenreinigung und Müllabfuhr aufgebaut und dienen als Basis vieler weiterer Anwendungen vom Betonmischer bis zum Spezialtankwagen. Die Kurzhauber sind auch im Export in Länder auf der ganzen Welt überaus erfolgreich. Damit werden sie zu einem wichtigen Pfeiler der Internationalisierung, die die damalige Daimler-Benz AG nach dem Zweiten Weltkrieg konsequent verfolgt.
Wie beliebt die Lastwagen mit der freundlich-rundlichen kurzen Haube bei den Kunden im Vergleich zu den damaligen Frontlenkern sind, zeigt ein Blick in die Verkaufszahlen: Der erfolgreichste Kurzhauber unter den Komplettfahrzeugen ist der Typ 322, der nach der Neuordnung der Typenbezeichnungen im Jahr 1963 als Typ 1113 geführt wird. Die Ziffernfolge steht für elf Tonnen zulässiges Gesamtgewicht und eine Motorleistung von 96 kW (130 PS). Als Kurzhauber-Lastwagen (L) und Kurzhauber mit Allradantrieb (LA) werden von 1959 bis 1969 mehr als 60.000 Fahrzeuge gebaut. In den Frontlenker-Varianten LP und LAP sind es zusammen weniger als 16.000 Exemplare. Insgesamt entstehen von den mittelschweren und den schweren Kurzhauber-Baureihen bis Ende der 1990er-Jahre zusammen fast eine Million Fahrzeuge. Darunter sind mehr als 650.000 komplette Lastwagen und Fahrgestelle sowie rund 300.000 Teilesätze. Diese „completely knocked down“-Sets (ckd) werden zur Montage ins Ausland geliefert. Der weitaus größte Auftrag sind dabei 226.930 ckd-Sätze des L 1210, die von 1964 bis 1979 nach Indien geliefert werden.
Im Laufe der langen Bauzeit passt Mercedes-Benz das Modellprogramm der Kurzhauber den Kundenbedürfnissen stetig an. Dazu gehören Dreiachser der schweren Klasse ab 1963, die sukzessive Einführung der Diesel- Direkteinspritzung ab 1964 und das großzügigere Fahrerhaus ab 1967. In die Kurzhauber-Epoche fällt auch die Neuorganisation der Nutzfahrzeugproduktion von Mercedes-Benz: Sie wird ab 1965 stufenweise ins neue Werk Wörth verlegt. Nun laufen die schweren und mittelschweren Kurzhauber nicht mehr in Gaggenau und Mannheim getrennt voneinander vom Band, sondern an einem Standort für die Kunden in aller Welt.