Wo ist der Flucht-Ponton geblieben?

Als Mitglied in einem offiziell anerkannten Mercedes-Benz Klassiker Club erhält man das Magazin CLASSIC von Mercedes-Benz kostenfrei ins Haus geliefert. Selten hat mich ein Artikel so sehr gefesselt, wie in der letzten Ausgabe der Beitrag mit dem Titel: >Wer der Mann ist? Ein Held!<

In diesem Artikel (zum Lesen des Original-Artikels einfach auf Artikel klicken) geht es um Dietrich Rohrbeck der als sogenannter Fluchthelfer Kinder, Männer und Frauen aus der damaligen DDR in den Westen brachte.

Mit dabei war meist ein schwarzer Mercedes W120 Ponton 180 mit dem Kennzeichen B-X439 aus dem Baujahr 1955.

Für den Einsatz als Fluchtwagen hatte Dietrich Rohrbeck dem am 19. Oktober 1962 gebraucht gekauften Wagen zwischen Rücksitzbank und der stabilen Stahlversteifung zum Kofferraum mit dem Blatt einer Eisensäge und einer Bohrmaschine einen 17-Zentimeter breiten Spalt geschaffen. In diesem Bereich passten schlanke Personen, die nicht größer als 1,80 Meter sein durften. Der Ponton sah sonst wie ein normaler Gebrauchtwagen aus… bei genauerer Betrachtung der vorliegenden Bilder aus dem Artikel werden ein paar Details sichtbar, die vielleicht bei der heutigen Suche nach dem Wagen hilfreich sein könnten…

  1. Türverkleidungen mit einfarbigen Bezug, evtl. Skai oder ähnlich MB-Tex, befestigt wie bei einem Sofa mit großen „Nägeln“ oder Schrauben mit Rosettenunterlagen.
  2. Einrastnasen unter der Hutablage für…
  3. einem Seilzug mit zwei Schnappern die die Rückbank vom Versteck aus öffnen lässt.
  4. Einfacher Überwurf/Bezug der Rückbank

Insgesamt konnten mit dem Flucht-Ponton 16 Menschen in die Freiheit gebracht werden, bis dann leider am 5. Januar 1963 der Bruder von Dietrich Rohrbeck im Osten geschnappt wurde. Er saß zwei Jahre in Haft und der Mercedes wurde von der „Stasi“ beschlagnahmt.

Doch was ist mit dem Wagen dann passiert?

Von anderen Fahrzeugen kenne ich es, dass die „Stasi“ solche Westwagen gerne für unauffällige Fahrten auf den Transitstrecken nutzte. So ein Wagen war dann weiterhin mit einem (meist gefälschten) West-Kennzeichen unterwegs und näherte sich Westwagen, wenn diese auf einem Parkplatz an der Transitstrecke hielten. So behielt man die Westler im Auge und konnte schauen, ob nicht einfach ein „blinder Passagier“ unbemerkt zusteigen sollte.

Da ein Mercedes in der DDR immer etwas Besonderes war, kann ich mir kaum vorstellen, dass der Wagen vor der Wiedervereinigung den Weg in Richtung Schrottplatz genommen hat.

Wer etwas zum Verbleib von B-X439 sagen kann, möchte sich bitte an Joerg.Maschke@MVConline.de wenden, DANKE !


Und hier der Artikel aus der aktuellen CLASSIC:

von Marc Bielefeld

Wer der Mann ist?
Ein Held!

Dietrich Rohrbeck brachte unter größtem Risiko Menschen aus der DDR in den Westen. Seine Geschichte erzählt von Mut und Entschlossenheit – und von einem „Ponton“, der für viele Ostdeutsche zum Gefährt in die Freiheit wurde.

Ein hochgewachsener und aufrechter Mann in Jeans und mit weißem Haar sitzt auf seinem Balkon in Hamburg-
Niendorf. Er trinkt ein Glas Wasser. Erst nach einer Weile geht er ins Wohnzimmer und kommt kurz darauf mit
einem Stück deutscher Geschichte zurück. Lächelnd legt er den Ordner auf den Tisch. In Klarsichthüllen stecken alte Kraftfahrzeugbriefe, Warenbegleitscheine, gefälschte Signaturen fast vergessener Tage. Ein weiteres Glas Wasser, im nahen Wald zwitschern Vögel. Fotos kommen zum Vorschein, ein schwarzer Mercedes-Benz 180 ist darauf zu sehen, Kennzeichen B-X 439, Baujahr 1955.

Neben dem Auto steht ein Mann und kehrt dem Betrachter den Rücken zu. „Niemand in meiner Branche wollte damals erkannt werden“, erklärt Dietrich Rohrbeck. „Es hätte tödlich oder im Stasi-Gefängnis enden können.“ Der schwarze Ponton auf den historischen Fotos ist äußerlich ein schönes Fahrzeug. Doch was damals wirklich in ihm steckte, ist dem Wagen nicht anzusehen. Eine Lücke. Ein Hohlraum. Ein 17-Zentimeter breiter Spalt zwischen Rücksitzen und Kofferraum, in den ein Mensch passte. Er musste schlank sein, nicht größer als 1,80 Meter. Er musste sich in die Nische zwängen wie in einen dunklen Käfig. Die Beine mussten angewinkelt sein, der Mensch
flach atmen und sich absolut still verhalten in diesem Versteck. Aber so gelang sie damals – die Flucht aus der DDR.

Dietrich Rohrbecks Ehefrau betritt nun den Balkon. Sie bringt Kaffee und Kekse, denn die Geschichte wird ein wenig dauern. Herr Rohrbeck, heute 82 Jahre alt, erzählt sie sachlich, detailreich, unaufgeregt. Mit Mercedes in die Freiheit Woher der Mut gekommen sei, woher sein Wille? Die Geschichte beginnt mit seiner ersten Flucht am Ende des Krieges, die ihn nach Weilrode und Silkerode im Südharz führte.

Sie handelt von einer zweiten Flucht, jener aus der sich bald formierenden DDR. Nach den Aufständen vom 17. Juni 1953 hatte sich der junge Herr Rohrbeck aus Görlitz nach Westberlin gerettet, doch viele hatten es nicht geschafft. Familien wurden getrennt, Schwestern von ihren Brüdern entzweit. Es gab da ja diesen Eisernen Vorhang zwischen dem Westen und dem Osten Deutschlands. Und in den Köpfen. Daher dieser Zorn auf geraubtes Leben und gestohlene Freiheit. So reifte sein Entschluss, anderen zu helfen, ihnen den Traum von der Freiheit mit seinen Möglichkeiten zu erfüllen.

Den gebrauchten Ponton kaufte er am 19. Oktober 1962 für 2 500 Deutsche Mark. Der Wagen mit seiner selbsttragenden Karosserie hatte eine solide Wand aus Stahl zwischen dem Kofferraum und der hinteren
Sitzbank. Schon einen Tag später, am 20. Oktober 1962, machte sich Dietrich Rohrbeck ans Werk. Er nahm eine Bohrmaschine und das Blatt einer Eisensäge, kroch ins Innere des Pontons und begann zu sägen. Er sägte und bohrte zwei Tage lang, während der Wagen unbeobachtet in einer Westberliner Garage stand.

Dietrich Rohrbeck, 1936 in Stettin geboren, war damals 26 Jahre alt, sein Haar dunkel und hochgekämmt. Er entfernte Teile des Unterbodens und Segmente der Rückwand, bis das Versteck fertig war. Damit konnte er
nun „auf Tour“ gehen, wie es damals im Jargon der Fluchthelfer hieß. Bald schmuggelte Herr Rohrbeck eine
Ingrid B. aus der DDR. Danach eine Frau namens Ingrid P. Bald darauf einen Herrn namens Hanns-Stephan W. Keine Nachnamen. Nur nicht zu viel wissen. Dietrich Rohrbeck gab sich ihnen selbst kaum zu erkennen.

„Reine Vorsichtsmaßnahme“, sagt er. „Ich war ein Schatten.“ Im Dezember krochen nach und nach weitere DDR-Bürger in den Hohlraum des Mercedes, und es wurden immer mehr, die Dietrich Rohrbeck mit seinem ganz speziellen Taxi in den Westen brachte. Das Risiko für ihn und seine Passagiere war enorm. Auf sogenannte Mauersaboteure warteten bis zu 15 Jahre Haft. Und mehrere DDR-Bürger sowie Fluchthelfer waren bei ihren Versuchen, in die Freiheit zu gelangen, bereits erschossen worden.

Zwei klare Augen blicken einen an. Herr Rohrbeck nippt am Kaffee. Nein, Angst habe er nicht wirklich gehabt. Aber mulmig sei ihm stets gewesen: „Die Staatssicherheit der DDR hatte ihre Augen und Ohren überall, auch in der Bundesrepublik. Ich musste die Nerven bewahren, absolutes Stillschweigen, eben so etwas wie ein Schattenmann sein.“

Sicher – Inspizierten die DDR-Grenzer den Kofferraum, fiel ihnen nichts Verdächtiges auf.

Die Idee, Menschen mit dem Auto in den Westen zu bringen, war ihm schon zuvor gekommen. Denn aufgrund spezieller Umstände hatte Herr Rohrbeck in der perfiden Bürokratie des Ostens eine Lücke entdeckt. Er war damals mit seiner ersten Frau verheiratet, einer Dänin. Die beiden hatten eine Tochter, und in der doppelstaatlichen Ehe war das Kind im Pass des Vaters eingetragen. Herr Rohrbeck pendelte oft zwischen Berlin und dem dänischen Falster, wo die Familie seiner Frau lebte. Er nahm immer die Fähre zwischen Gedser und Warnemünde bei Rostock, fuhr durch die DDR – von und bis Westberlin. Eines Tages, nachdem er schon einige Menschen durch die unterirdischen Tunnel in Berlin gelotst hatte, wo sie wie Maulwürfe zwischen den Welten
gekrochen waren, hatte er es das erste Mal auf diese Art gewagt: mit dem Auto, von Dänemark kommend.

Er brachte 16 Kleinkinder in den Westen

Auf der Fähre ging er zum Schalter der Grenzbeamten der DDR, legte seinen Pass vor und sagte: „Meine kleine Tochter kränkelt ein bisschen und schläft gerade so friedlich unten im Wagen.“ Ein brenzliger Moment. Die entscheidenden Sekunden. Herr Rohrbeck blieb ganz ruhig und freundlich. „Muss ich sie jetzt wirklich wecken?“ Die Beamten, abends schon ein bisschen müde, stellten den Transitschein aus. Sie wussten, dass bei der Einreise in die DDR noch eine genauere Personenkontrolle folgen würde. Herr Rohrbeck aber versteckte die Transitpapiere
seiner Tochter. Denn sie hatte den Wagen nie bestiegen.

Oben auf dem Balkon bekommt man derweil eine vage Vorstellung davon, was Zivilcourage bedeuten kann. Herr Rohrbeck holt nun die alten Stempel hervor, die er damals anschließend nutzte. Perfekt gefälschte Stempel von einem Dänen, der sich in diesen Dingen auskannte. Der schon Dokumente im Zweiten Weltkrieg gefälscht hatte. Herr Rohrbeck stempelte also nun das Transitpapier seiner Tochter ab, die ja nicht im Wagen war. Und steckte es wieder in die Tasche. Einmal in der DDR holte er ein erstes Kind an einer zuvor vereinbarten Stelle ab. Fuhr dann mit diesem Kind – seiner Tochter, die nicht seine Tochter war – über die Grenze nach Westberlin. Es klappte auf Anhieb.

16 Kleinkinder, die ihren bereits geflohenen Eltern folgen sollten, brachte Dietrich Rohrbeck auf diese Weise heraus. Die Kinder waren meist nur ein, anderthalb Jahre alt. Im mitgeführten Fläschchen war meist ein leichtes Beruhigungsmittel, damit die Kleinen nicht schrien, wenn der große fremde Mann sie nahm und auf die Rückbank
setzte. Waren es Jungs, zog Herr Rohrbeck ihnen das Jäckchen seiner Tochter an. Er hatte natürlich auch Windeln und Schnuller aus dem Westen dabei. Nie flog er auf. 16-mal kamen sie durch. „Ein Tanz auf der Rasierklinge.“ Mit allem Mut, der zu solchen Manövern gehört.

Herr Rohrbeck wollte weitermachen. Er hatte, wie viele im Milieu der Fluchthelfer, eine große Wut im Bauch. Gegen das Unrechtssystem. Gegen die Unfreiheit und das Eingesperrtsein hinter Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl.

Geheimdienste hatten ihn ebenso kontaktiert und unterstützt wie Freunde und Bekannte, die Bescheid wussten. Die ihn darum baten, noch mehr Leute zu holen, noch mehr Familien zusammenzuführen. Töchter, Söhne, Ehefrauen, Schwager. Wohin aber mit den Erwachsenen? Bei ihnen würde der Tochtertrick nicht funktionieren. Herr Rohrbeck nahm seine Werkzeuge und sägte dem Wagen das Versteck in den Bauch. Er fuhr öfter von Westberlin nach Falster, schließlich lebte dort die dänische Familie und weilte die Tochter oft bei den Schwiegereltern. Das wirkte plausibel. Wieder wurden geheime Verabredungen getroffen, verschlüsselte
Telegramme geschickt. Warten. Schweigen. Irgendwann fuhr Herr Rohrbeck los. Nun aus Berlin-Zehlendorf im Westen der Stadt, wo er wohnte und eigentlich ein Studium zum Bauingenieur machte. Bei Staaken kam der Grenzübergang. Die üblichen Kontrollen. Es folgte die Fahrt durch die DDR, die mit einem Westberliner
Pass damals möglich war. Wenig befahrene Landstraßen, die Sonne war längst unten. In Rostock kam Herr Rohrbeck zum Treffpunkt. Es musste alles sehr schnell gehen. Er flüsterte ein Codewort, einmal hieß es „Malli“.
Die zur Flucht bereiten Menschen folgten ihm zum separat geparkten Ponton. Herr Rohrbeck klappte die Rückbank weg, eine Person verschwand in dem Spalt. Alles ging blitzschnell. Herr Rohrbeck startete den Motor, fuhr wieder los. Nach Warnemünde, wo die späte Fähre nach Dänemark wartete und schon bald ablegen würde.

Stundenlanges Ausharren

„Von diesem Zeitpunkt an konnte ich nichts mehr tun“, erinnert sich Herr Rohrbeck. „Nur möglichst cool bleiben, gelassen wirken, mir nichts anmerken lassen.“ Vor der Fähre brannten die Nerven. Nur wenige Millimeter Metall trennten ihn und die Flüchtenden vom jähen Ende der Reise. Die Aussichten: endlose Verhöre, jahrelange
Haft. Herr Rohrbeck saß am Steuer, lächelte. Erzählte nötigenfalls von seiner Familie, vom Leben drüben in Dänemark. Strahler erhellten die Zufahrten zur Fähre. Uniformierte Männer inspizierten das Auto. Hunde
schnüffelten. Im Grenzhaus wurde sein Pass geprüft, sein Visum. Die Beamten öffneten den Kofferraum, stocherten darin herum. Ein Hüsteln aus dem Spalt hätte genügt.

„Bis zu dreieinhalb Stunden mussten einige im engen Versteck ausharren“, sagt Herr Rohrbeck. „So lange konnte es dauern, bis sie an Bord von Ostdeutschland nach Dänemark und endlich in Sicherheit waren.“ Dietrich Rohrbeck hat die ganze Zeit über nur einen Keks gegessen. Seine Tasse Kaffee steht da und ist jetzt kalt. 85 Erwachsene und 16 Kleinkinder hat er im Laufe von zwei Jahren aus der DDR geholt. Mit dem Ponton, gefälschten Papieren, durch Tunnel, zu Fuß. 16 Menschen fanden im winzigen Spalt des Mercedes Platz. Und wussten danach, was es heißt, atemlos in die Freiheit zu gelangen.

Mit dem Auto war sein Bruder ein letztes Mal über die Grenze gefahren, um jemanden zu holen. Am 5. Januar 1963 wurde der Bruder im Osten geschnappt. Er saß zwei Jahre in Haft. Auch für Dietrich Rohrbeck wurde das Risiko jetzt zu groß. Sein Wagen war weg. Keine Spur, kein Hinweis. Den schwarzen Ponton hat er nie wieder gesehen.