Das älteste Repräsentationsfahrzeug der Welt

  • Für eine illustre und internationale Kundschaft: Der Daimler Motor-Straßenwagen aus dem Jahr 1892
  • Automobilität ist damals noch eine höchst exklusive Angelegenheit
  • Mercedes-Benz Museum Close-up: Automobile, Architektur und Ausstellung – Nr. 7/2022

Motor-Straßenwagen von 1892 der Daimler-Motoren-Gesellschaft

„Close-up“ – der Name der Serie des Mercedes-Benz Museums ist Programm. Jede Folge erzählt Überraschendes, Spannendes, Hintergründiges. Dazu wirft sie den Spot auf Details eines Fahrzeugs, Ausstellungsexponats oder eines Elements von Architektur und Gestaltung. Diesmal im Blick: der Daimler Motor-Straßenwagen von 1892.

Nr. 7/2022: Daimler Motor-Straßenwagen von 1892

Dezent: Dieses 130 Jahre alte Exponat wirkt etwas unscheinbar im Raum Collection 4: Galerie der Namen des Mercedes-Benz Museums. Der kleine Daimler Motor-Straßenwagen von 1892 steht direkt neben zwei mächtigen und prunkvollen Mercedes-Benz 770 „Großer Mercedes“ (W 07) aus den 1930er-Jahren. Doch er passt perfekt dorthin. Denn er ist das älteste Repräsentationsautomobil der Welt.

Von links nach rechts: Daimler Motor-Straßenwagen, 770 „Großer Mercedes“ Cabriolet F und 770 „Großer Mercedes“ Pullman-Limousine

Hochmodern: Wer nähertritt, entdeckt seine Bedeutung. Der Motor-Straßenwagen ist das erste Automobilmodell, das die Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG) verkauft – und im Jahr 1892 ist er eine hochexklusive Angelegenheit. Was mit Blick auf die Produktionszahl fast eine Untertreibung ist. Denn sechs Jahre nach der Erfindung des Automobils gelangen lediglich einzelne Kunden in den Genuss des innovativen Fortbewegungsmittels. Vom Motor-Straßenwagen baut die DMG bis 1895 gerade einmal zwölf Stück. Dennoch, der Anfang ist gemacht.

Daimler Motor-Straßenwagen mit Kettenantrieb („Schroedter-Wagen“)

Programmatisch: Das aus heutiger Perspektive einfach wirkende Fahrzeug mit seinem kastenförmigen Aufbau und offener Sitzbank auf vier Holzrädern, die vorderen etwas kleiner, ist ein starkes Signal und sein Name Programm: Es sieht aus wie eine Kutsche und kommt doch ganz ohne vorgespannte Pferde aus. So wird schon in dieser frühen Entwicklungsphase die Automobilität als herausgehobene Fortbewegung deutlich. Die Faszination erfasst umgehend wichtige Entscheidungsträger.

Ansicht mit aufgespanntem Verdeck

Berühmtheiten: Es ist eine illustre Kundschaft vor 130 Jahren, die sich für das innovative Verkehrsmittel interessiert. „Sultan, Marokko“ steht sehr sachlich 1892 im ersten Eintrag des DMG-Wagenbuchs: Als erster Kunde des Unternehmens erhält Mulai al-Hassan I. einen Daimler Motor-Straßenwagen. Der Herrscher Marokkos aus der Dynastie der Alawiden regiert von 1873 bis 1894. Bevor er das innovative Fahrzeug aus Cannstatt erhält, zeigt er sich seinen Untertanen auf edlen Pferden.

Das Foto zeigt das Fahrzeug für Mulai al-Hassan I.. Das Fahrzeug erhält einen verzierten Himmel aus Samt sowie als weitere edle Sonderausstattungen Goldfadenquasten und Ebenholzverzierungen.

Ausrufezeichen: Dass der Herrscher mit dem Kauf des Motor-Straßenwagens zu einem der ganz frühen Daimler-Kunden wird, passt zur Markengeschichte. Denn das Cannstatter Unternehmen bietet 1892 ein Produkt für allerhöchste Ansprüche an. So legt dieses Automobil auch den Grundstein für die Historie von Mercedes-Benz als ältestem Luxusautomobilhersteller der Welt. Nur ein Jahr später geht die konkurrierende Benz & Cie. in Mannheim mit dem Victoria ebenfalls ins Rennen um Kundschaft.

Detail Seite rechts, unter anderem mit der Außenbremse auf die vollgummibereiften Räder.

Individuell: Das am 31. August 1892 an den Sultan gelieferte Automobil sieht etwas anders aus als das im Mercedes-Benz Museum ausgestellte Fahrzeug, wie das Foto neben der Exponatbeschreibung dokumentiert. Das Klima in Marokko erfordert ein Sonnendach, und so erhält es einen verzierten Himmel aus Samt sowie als weitere edle Sonderausstattungen Goldfadenquasten und Ebenholzverzierungen. Eindeutig: Mehr Automobil geht vor 130 Jahren nicht.

Blick auf die Mechanik.

Erfinderisch: Vorn wie hinten trägt das Fahrzeug im Museum deutlich sichtbare Herstellerplaketten der Daimler-Motoren-Gesellschaft in Cannstatt. Der Motor ist unauffällig in die vom Stuttgarter Kutschenbauer Otto Nägele gefertigte Karosserie eingebaut. Sichtbare Erkennungsmerkmale des Motor-Straßenwagens sind beispielsweise die Lenkstange vor der Sitzbank, ein großes Zahnrad mit massiver Antriebskette zwischen den Hinterrädern und weitere mechanische Elemente. Findig: Das Kühlwasser zirkuliert durch die Stahlrohre des Fahrzeugrahmens. Eine äußere Klotzbremse sorgt für Verzögerung, sie wirkt auf die Räder mit Vollgummireifen des „Hamburger Gummiwerks“.

Blick auf die Antriebszahnräder.

Antriebsstark: Den Motor-Straßenwagen entwickelt Chefkonstrukteur Max Schroedter aus dem Stahlradwagen von Gottlieb Daimler und Wilhelm Maybach des Jahres 1889 – daher auch der verbreitete Beiname „Schroedter-Wagen“. Das neue Produkt hat einen Zweizylindermotor mit 1.060 Kubikzentimetern Hubraum, der 1,47 kW (2 PS) bei 700/min leistet. Ein Zahnradwechselgetriebe mit drei Gängen und ein Hinterachsdifferenzial sind für die Kraftübertragung zuständig. Die Höchstgeschwindigkeit beträgt 18 km/h.

Detail vorn: Behälter mit Herstellerplakette des Unternehmens.

Großeinkauf: Das Spitzentempo mag aus heutiger Sicht nicht viel sein. Doch vor 130 Jahren ist es nicht nur eine Geschwindigkeit, sondern zugleich der Beweis für die Leistungsfähigkeit des Verbrennungsmotors. Von dieser ist Mulai al-Hassan I. offenbar so begeistert, dass er es nicht allein beim Motor-Straßenwagen belässt: Ebenfalls am 31. August 1892 erhält er von der DMG ein Boot mit dem neuartigen Motorantrieb. Mehr repräsentative Innovation geht damals kaum.