Dossier: Benz 8/20

Der Alte

Eine tolle Leistung von Mensch und Maschine ist die Absolvierung der „2000 km durch Deutschand“ Rallye immer. Besonders bemerkenswert ist jedoch der Fahrer, der noch nicht mit dem Komfort der späten Dreißiger Jahre rechnen kann, sondern sich mir einem Fahrzeug auf die Strecke begibt, dass den Entstehungsweg von der Werkbank und nicht dem Montageband bis zur Straße überdeutlich darstellt. MVC Mitglied Werner Brungs wagte es bereits im Jahr 1999 und meisterte diese Prüfung mit Bravour. Davor standen jedoch viele Stunden Arbeit, die dem Betrachter wohl immer verborgen bleiben werden. Der Mercedes-Benz Vetranen Club (MVC) ist der Club, in dem solche Fahrzeuge richtig aufgehoben sind.

Die Zeit

Wenn man dieses Fahrzeug von 1912 nicht nur beschreiben, sondern auch würdigen will, muss man die Zeitgeschichte und die äußeren Umstände betrachten, als es entstanden ist. Nur so eröffnen sich dem Betrachter alle Facetten und Ergebnisse im rechten Licht. Und es war die Zeit der schwindenden Bärte. Rauschende Vollbärte waren, ausser bei Seeleuten und Wissenschaftlern, bereits verpönt und Schnauz- und Kinnbärtchen wurden allmählich kleiner. Es war ebenfalls die Zeit des Kolonialismus und auch Deutschland, was noch deutsches Kaiserreich war, versuchte in dieser Liga mitzuspielen. Die Hottentotten wurden zu über 50% bei der Niederschlagung eines Aufstandes in „Deutsch Süd-West“ getötet, den sie nichteinmal angezettelt hatten. Deutsche, die ins Ausland gingen, wanderten indes nur selten in die eigenen Kolonien. Colonialwaren hingegen waren erstmals aus „eigenem Bestand“ zu kaufen. Viele Deutsche wanderten aber nicht tatsächlich durch die Welt, sondern fuhren mit „Kara Ben Nemsi“ „Durch das wilde Kurdistan“ oder folgten ihm in seiner Eigenschaft als Blutsbruder Winnetous durch den „Wilden Westen“. Dieser kam aber auch nach Europa und Buffalo Bill lockte mit seinen „Wilden“ die Menschen in den Zirkus. Gleichzeitig hatte der „Blitzen-Benz“ 1910 einen neuen absoluten Geschwindigkeitsrekord mit 211,04 km/h aufgestellt. Unvorstellbar, denn unlängst hatte sich beispielsweise nicht nur warmes Baden als nicht gesundheitsschädlich durchgesetzt, sondern mehrnoch war die Medizin mittlerweile davon überzeugt, dass Reinlichkeit im Alltag und auch bei der Operation von Patienten dem ganzen durchaus zuträglich wäre. Die Industrielle Revolution marschierte fast ungebremst. Die Manufakturen, die es bisher gab, wandelten sich mehr und mehr in Fabriken. Henry Ford hatte vor kurzem die Fließband-Produktion eingeführt, machte mit seiner so produzierten „Tin Lizzie“ ein ganzes Volk mobil und füllte sich gleichzeitig die Taschen. Charlie Chaplin stellte mit seinem Film „Modern times“ nicht nur eine gekonnte Satire auf dieses Geschehen her, sondern auch gleichzeitig das erste Ergebnis seiner neu gegründeten Künstlervereinigung „United Artists“. Allerorten war die Technikgläubigkeit fast grenzenlos. Drehbrücken, Zeppeline und andere Flugmaschinen, Schnellzüge und Autorennen sind bezeichnend für diese Zeit. Anderseits gab es eine neue Zeitschrift, die durch ihre neuartige Aufmachung sogar eine neue, nach ihr benannte Stilrichtung erschuf. Das Magazin „Jugend“ verbreitete den „Jugendstil“ so schnell im ganzen Reich wie vorher kaum eine andere Kunstform. Im Jahre 1912, als auch dieser Tourenwagen ausgeliefert wurde, sollte aber noch ein gravierendes Ereignis die technikbegeisterte Welt erschüttern: Das „sicherste Schiff der Welt“ wurde auf seiner Jungfernfahrt von einem Eisblock aufgeschnitten und ließ den Traum von der Titanic im Atlantischen Ozean versinken . . .

Das Fahrzeug

All dies soll nur auf die Zeit einstimmen, in der der Benz 8/25 entstand. Augenfällig an dem hier beschriebenen Wagen sind vor allem die Drahtspeichenräder. Sie sind mit einer Rudge-Whitworth-Nabe auf der Achse befestigt und das ganze Rad kann gewechselt werden. Üblicherweise wären an so einem Fahrzeug Holzspeichenräder montiert gewesen. Bei diesen kann nicht das ganze Rad, sondern nur das äußere Felgenhorn zum Reifenwechsel demontiert werden. Die andere Befestigungsart war jedoch nicht der Grund, das teurere, englisch patentierte Rad zu verbauen. Die Ursache hierfür liegt vielmehr in der individuellen Geschichte dieses Fahrzeugs. Er ist einer von drei (!) Benz 8/20 die im Jahre 1912 nach Australien exportiert wurden. Kurioserweise sind auch alle drei erhalten, bekannt und mittlerweile zurück in Deutschland. Gut, werden jetzt einige denken, er will uns sagen, dass man nur Autos mit englisch patentierten Rädern nach Australien exportieren durfte! Weit gefehlt. Viel simpler ist das Motiv für diese Ausrüstung: Termiten! Die Räder sind ein, heute würde man sagen „sicherheitsrelevantes“ Teil. Und da die Sicherheit durch die kleinen Holzvertilger bei den auf dem europäischen Festland üblichen Rollkörpern nicht immer gewährleistet werden konnte, musste man auf eine Alternative ausweichen. Eine aus Metall musste es sein. Und selber noch etwas neues konstruieren für die wenigen Exporte, das war zu aufwendig. Einzig aus diesem Grunde wurden die verhältnismäßig teuren Rudge-Naben zugekauft. Andererseits waren diese nunmehr auch seit vier Jahren auf dem Markt und so war auch eine Zuverlässigkeit gewährleistet. Evident sind die Werksaufnahmen aus dieser Zeit auch für die Reifen überhaupt. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keine schwarzen Reifen. Sie waren gelblich weiß bis grau. Erst in dem Jahr, als es diesen Benz nach dem sechsten Kontinent verschlagen hatte, wurde in Europa erstmals Ruß mit in die Gummischicht gemischt. Dies erhöhte deren Lebensdauer auf das Drei- bis Vierfache. Dass dieses Auto das Lenkrad auf der rechten Seite hat, ist jedoch kein Indiz für den auch heute in Australien noch üblichen Linksverkehr, sondern einfach eine Erscheinung der Zeit. Befestigte Straßen gab es damals kaum. Auch wenn auf speziellen Betonpisten bereits Geschwindigkeiten erreicht wurden, von denen Sportwagenfahrer der 1960er Jahre nur träumten, war der Weg über Land eher beschwerlich. Wenn man aber auf einer unbefestigten Landstraße dem Gegenverkehr ausweichen wollte, musste man so scharf rechts fahren, dass man nur beim herauslehnen Straßenkante und Rad im Blick hatte. Bis Anfang der 1930er Jahre konnte man bei jedem Hersteller noch die Position des Lenkrades wählen.

Halbfertiges Auto ausgeliefert

Ausgeliefert wurden aber dennoch nicht immer ganze Autos, sondern sogenannte „rolling chassis“. Das bedeutet, dass nicht nur der Rahmen auf den Rädern stand, sondern dass Motor und Antriebsstrang, Kühler Schottwand, Lenkung und Bremse ihn schon zu einem „selbstfahrenden“ Automobil machten. Es war damals durchaus nicht unüblich, ein Auto ohne Karosserie zu ordern und es erst nach der Anlieferung mit einem Wagenaufbau versehen zu lassen. — Auch dies geschah mit allen drei 8/20. Der Karossier namens Windsor baute seine, fast ist man geneigt zusagen, Einheitskarosse auf alle drei Benz und sicherlich noch auf einige andere Wagen. Allesamt sind es Tourer oder Phaëton. Benz nannte die etwas spartanischere offene Karosserieform aber im Prospekt Runabout, wobei das nicht richtig zutrifft. Zwei dieser drei entstammen der Serie W 4 und einer der Serie W 5. Diese „W“ Bezeichnung ist aber willkürlich und hat nichts mit der noch heute üblichen werksinternen Unterscheidung für ein bestimmtes Baumuster gemein. Vielmehr handelt es sich hierbei tatsächlich um eine Art Serien-, man könnte auch sagen Chargennummer. Diese gibt es von A bis W und manche sogar mit zwei Buchstaben. Bis auf den W 1, der als 8/18 PS nur 1911 lief, handelt es sich bei allen anderen W Nummern um 8/20 PS. Dabei hatten erstaunlicherweise die Seriennummern W 2 bis 4 (von 1912 bis 1913) eine tatsächliche Leistung von 22 PS, obwohl sie ebenfalls 8/20 hießen. Diese erreichten Geschwindigkeiten bis 65 km/h. Die Reihen W 5 bis 8 (1913 bis 1915) hatten ihre wirklichen 20 PS und hatten eine Endgeschwindigkeit von 62 km/h. Ab 1915, also von W 9 bis 13 (Produktionsende 1920) wurde diese jedoch auf 68 km/h gesteigert und durch eine um 2,5 mm größere Bohrung ergab sich ein Hubraum von knapp über zwei Litern und erneuten 22 PS. Ebenfalls bemerkenswert ist, dass Daimler im Jahre 1912 „nur“ 1866 Personenwagen produzierte. Benz hingegen fand für 3093 Einheiten einen Käufer. Ein knappes Drittel entfiel dabei auf das kleinste Modell der Palette und zwei Drittel splitteten sich in neun andere Typen auf.

Geschichte eines Automobils

Der Wagen von Werner Brungs war dann tatsächlich bis 1932 in Australien in Betrieb und dann verlor sich seine Spur. Erst als ein Bauunternehmer aus Hamburg Anfang der 1980er Jahre nach Australien auswanderte, wendete sich das Blatt der alten Benze „Down under“. Im Baugeschäft sein Geld verdienend verfiel er nämlich in Sammelleidenschaft. Erkaufte alle Benz-Fahrzeuge aus der Vorkriegszeit, derer er habhaft werden konnte. Bei so vielen Autos lag es dann irgendwann nahe, ein Autohaus zu eröffnen. Und was bietet sich mehr an, als eine Daimler-Benz Werkstatt zu werden? Doch der Herr Baumagnat hatte bei der Betreuung von Fahrzeugen nicht allzuviel Glück (oder Können), so dass die Firma Konkurs anmelden musste. Ein Herr aus Neuseeland kaufte fast alle halbfertigen und unrestaurierten Autos auf und bot sie in aller Welt an. So erfuhr auch Werner Brungs von seinem Wagen. Dieser war damals komplett, aber stark restaurierungsbedürftig. Die Karosse war so schlecht, dass ein Retten zwar nicht unmöglich gewesen wäre, aber den Preis einer Neuanfertigung bei weitem überschritten hätte. Da es sich bei dem blechbeplankten Holzgerippe jedoch sowieso nich um ein originales Benz-Teil handelte, entschloss man sich für die Variante, den Wagenaufbau nachzufertigen. Gleichzeitig entstand übrigens auch der Zweite der drei Benz aus Australien. Den „Welder“, der dieses Werk vollbracht hatte, wurde auch noch von dem freundlichen Verkäufer aus Neuseeland besorgt und empfohlen. Eine Empfehlung die durchaus nicht schlecht war. Auch der Rest des Chassis wurde dort, jedoch in anderer Werkstätte, komplett überholt. Wie sich später leider herausstellen sollte, hatte dieser Mechaniker allerdings nicht die goldenen Hände. Zwar lief der Wagen, als er aus dem Container nach vierwöchiger Überfahrt entladen wurde, aber nicht lange. Das fiese Geräusch kündigte einen Lagerschaden an. Und wer das schon einmal gehört hat, der weiß dass sich solch ein Problem nicht an der Schwelle abfangen lässt. Also Motor ‘raus, komplett zerlegen und feststellen, dass die vorherige Überholung besser nicht stattgefunden hätte. Um es kurz zu machen, es gab noch viel Ärger mit der Schmierung und das Ergebnis waren zwei Sätze, in Abständen von rund 250 km, neu gegossene Lagerschalen. Endlich, nach rund 700 km Testfahrt mit den erwähnten Unterbrechungen und einer verpassten „2000 km durch Deutschland“ Rallye, lief der Motor einwandfrei. Aber man wollte sich nicht nur auf das Glück verlassen und hoffen, dass es im nächsten Jahr schon gut gehen wird. Es sollte Gewissheit her, dass der Wagen die nächste „2000″er schaffen wird. Daher gab es noch Probe- und Testfahrten im Gesamtumfang von 1400 km. Alles ohne Beanstandung. Genauso wurde auch die 1999 Ausgabe der „2000 km durch Deutschand“ abgeleistet. Und bei dem tatsächlichen Verbrauch von 14 Litern Benzin bei einem Tankvolumen von 50 Litern muss man auch nicht jede Möglichkeit des Kraftstoffnachfüllens nutzen. So ergab es sich, dass das die Startnummer 2 die komplette Strecke auf eigener Achse zurücklegte und trotzdem immer innerhalb der Sollzeiten an den entsprechenden Kontrollpunkten ankam. Mache Strapazen nimmt man halt gern auf sich . . .