Bekannterweise hatte Daimler am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mit Omnibussen der DMG wesentlich mehr Erfolg in England als zuhause im Kaiserreich. Das bezeugen schon allein die Verkaufszahlen für das Jahr 1904 in England und den englischen Kolonien, mit 339 gelieferten Omnibussen, verglichen mit lediglich 18 (jawohl, achtzehn!!) in Deutschland. Bereits 1901 kam es zu einem Kooperationsvertrag zwischen der Firma G.F. Milnes & Co. Limited in England und der DMG. Milnes übernahm den Alleinvertrieb von Daimler Lastwagen, Omnibusen, und Lkw-Fahrgestellen im gesamten „British Empire“, die DMG begnügte sich im Gegenzug mit einem Aktienpaket der G.F. Milnes, und daraus entstand 1902 die Namensgebung „Milnes-Daimler“. Kriegsbedingt hörte 1914 diese für beide Seiten sehr erfolgreiche deutsch-englische Zusammenarbeit auf, und der Name „Milnes-Daimler“ verschwand für immer.
Das 1:43 Weissmetallmodell des Milnes-Daimler „Charabanc“ , laut Anbieter ein Fahrzeug aus dem Jahre 1908 (es dürfte jedoch eher Baujahr 1903 oder 1905 sein) stellt, jedenfalls für unsere Generation, ein Unikum dar. (Bild 1 )
Die Ursprünge des als „Charabanc“ bezeichneten Fahrzeugs gehen weit zurück, offiziell in die Mitte des 19. Jahrhunderts; ich könnte mir allerdings gut vorstellen, dass es weit ins Mittelalter, wenn nicht sogar bis in die Römerzeit zurückreichen könnte! Der Name „Charabanc“ bedeutet nämlich in Französisch nichts anderes als ein „char à bancs“, also ein „Karren mit Bänken“. Auf den Gedanken, einen Heuwagen mit quer gestellten Bänken auszustatten, um damit von ein paar Ochsen gemütlich vom Bauernhof ins Nachbardorf zum Pfingsfest oder zum Jahrmarkt gezogen zu werden, darauf dürfte man wohl schon vor –zig Jahrhunderten gekommen sein. (Bild 2)
Der feine Unterschied zwischen einem „Charabanc“ und einem Ausflugswagen bzw. -Omnibus besteht seit dem 19. Jahrhundert hauptsächlich darin, dass es sich zum einen um ein offenes Fahrzeug handelt, und zum anderen, dass jede Sitzbank bis zu einer halben Stufe höher als die vorhergehende angebracht ist, damit jeder Fahrgast auch die Landschaft vor ihm geniessen kann, und nicht nur den Hut der Dame oder des Herrn auf der Bank davor. Etwas schwierig ist es, insbesondere auf die hinteren, also auf die am höchsten gelegenen Bänke zu gelangen, dafür muss man nämlich eine kurze sechs- oder siebensprossige Leiter hinaufsteigen…garnicht so einfach, ganz besonders nicht wenn man als Dame im viktorianischem Zeitalter mit langem Kleid ladylike da hoch muss, und dazu noch ohne Geländer an dem man sich festhalten könnte. Da hilft nur noch eine galante männliche Hand !
Charabancs waren ursprünglich im Nahverkehr als Entlastungs-Fahrzeuge für die Eisenbahn gedacht, entwickelten sich jedoch schnell zu Ausflugswagen, und waren höchst beliebt bei Kegelbrüdern und Teilnehmern von Betriebsausflügen…einmal im Jahr ‘raus aus dem Ruß, und ‘rein in die Natur! Ursprünglich eine französische „Erfindung“, scheint es diese Charabancs im 19. und frühen 20. Jahrhundert, bis in die zwanziger Jahre hinein, hauptsächlich in England gegeben zu haben. (Bild 3) Leider waren es gerade ihre Eigenschaften, die zum Grund für den Niedergang der Charabancs wurden: sie boten keinerlei Schutz vor dem Wetter, vor allem aber verursachte ihr hoher Schwerpunkt viele Unfälle…
Anfang des 20. Jahrhunderts ersetzte der Benzin-Motor auch den Hafer-Motor, und so kam es zum Milnes-Daimler „Charabanc“. Dass ich überhaupt den Modellbausatz fand bzw. entdeckte, war eine reine Glücksache. Ganz zufällig stiess ich vor ca. 5 Jahren im Internet auf die Webseite eines englischen Modelleisenbahnzubehör-Anbieters, der darauf allerlei Kleinteile für Eisenbahnen im „O“-Maßstab, und ganz am Ende seiner Liste einen 1:43 Bausatz des bewussten Charabanc anbot. (Bild 4 ) Da ich bei Kits zwei linke Hände habe (oder fast), stiess ich einen Seufzer aus, und ging auf anderes über…aber aus dem Kopf ging mir der Charabanc nicht, handelte es sich hierbei doch um eine höchst seltene, quasi einmalige 1:43 Darstellung eines frühen Daimler-Lkws, egal ob mit Charabanc-Aufbau oder nicht!
Vor fast zwei Jahren hatte ich dann das Glück, dass in Europa der Freund eines Freundes sich anbot, mir einen Charabanc zu montieren, sollte ich den Kit aus England noch bekommen können. Und siehe da, der Bausatz des Modells war immer noch erhältlich. Wie sich herausstellen sollte, sind die insgesamt 63 Teile allerdings zum grossen Teil grob gegossen, und müssen entgratet, gefeilt, und nachgearbeitet werden. Ziemlich viel Arbeit. Die Montage soll auch nicht gerade einfach gewesen sein, aber nach eineinhalb Jahren (na ja, das Modell wurde ausschliesslich in der kargen Freizeit des Freundes meines Freundes zusammengebaut !) bekam ich dann mein Modell, einfach unglaublich gut zusammengebaut! (Bild 5)
Bis auf die Instrumente ist bei diesem schwerem Weissmetall-Modell alles, inklusive aller Teile des Fahrgestells vorbildgerecht vorhanden. Eine sechssprossige Leiter liegt dem Kit bei, ebenso eine enorme Trompete, ein Signalhorn eigentlich, das, wie ich erfuhr, neben dem Fahrer auf der Bank lag, und bei Bedarf vom Begleitpersonal (dem Schaffner zum Beispiel) betätigt wurde. Der eine fährt, der andere hupt. Zeiten waren das…! Zum Spass habe ich mir ein Diorama gebaut (das schaffen meine zwei linke Hände noch problemlos), das ein 1:43 Bild der Vorbereitung zu einer Ausflugsfahrt circa 1903 vermitteln soll, mit Schaffner, Fotograf und Sittenwächter in Uniform, dank der Figürchen der Häuser Omen, Preiser, und BM-Toys. (Bild 6)
Für die Mutigen ist der 1:43 Bausatz aus dem Jahre 2005 mit der Bestellnummer RV1 immer noch im Angebot, und für £ 48 (plus Versand) erhältlich, von :
- S&D Models
- Highbridge Works
- P O Box 101
- Burnham-on-Sea
- TA9 4WA
- United Kingdom
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Text: Bernd D. Loosen Bilder: S&D Models, Bernd D. Loosen, verschieden Quellen