- Daimlers schnell laufender Viertaktmotor ist in den 1880er-Jahren Taktgeber einer Zeitenwende
- Schlüsselerfindung für die individuelle Mobilität
- Geschaffen aus bestem Start-up-Spirit
- Museum Close-up: Automobile, Architektur und Ausstellungsgestaltung Nr. 3/2021
„Close-up“ – der Name der Serie des Mercedes-Benz Museums ist Programm. Jede Folge legt den Fokus auf ein Fahrzeug, ein Ausstellungsexponat oder ein Element von Architektur und Gestaltung. Sie wirft den Spot auf Details, erzählt Hintergründiges, Spannendes, Erstaunliches. Denn 160 Fahrzeuge und 1.500 Exponate im Mercedes-Benz Museum sind ein reichhaltiger Fundus für Geschichten. Diesmal im Blick: die „Standuhr“ – der Einzylindermotor von Gottlieb Daimler aus den 1880er-Jahren.
Nr. 3/2021: „Standuhr“
Winterzeit: In der Nacht vom 30. auf den 31. Oktober 2021 endet die Sommerzeit. Um eine Stunde werden die Uhren deshalb zurückgestellt – offiziell passiert das um 3 Uhr, dann ist es noch einmal 2 Uhr. Viele Menschen freut das: eine Stunde länger schlafen am Sonntag, wie schön. Für eine Zeitenwende anderer Art sorgt vor gut 135 Jahren auch Gottlieb Daimler mit seiner „Standuhr“. Die Zeit zeigt diese freilich nicht an. Jedoch macht sie damals deutlich, was die Stunde geschlagen hat.
Taktgeber: „Standuhr“ ist der Spitzname für Daimlers ersten schnell laufenden Viertaktmotor. Er ist ein zentrales Exponat des Mercedes-Benz Museums im Raum Mythos 1: Pioniere – die Erfindung des Automobils. Eine Skulptur aus Stahl und Messing in markanter Optik mit stehendem Zylinder und rundem Kurbelgehäuse: Das Aussehen erinnert tatsächlich entfernt an eine Standuhr. Gleich daneben ist Daimlers Motorkutsche zu sehen, im Hintergrund alle weiteren Fahrzeuge mit der „Standuhr“ als Antriebsaggregat. So läutet diese ganz besondere „Uhr“ das Zeitalter umfassender individueller Mobilität ein – auch wenn das nicht auf den ersten Blick erkennbar ist.
Selbstsicher: Im Sommer 1882 ist der 48 Jahre alte Erfinder Gottlieb Daimler zum Start-up-Unternehmer geworden. Ausgestattet mit fundierten Technikkenntnissen und auch einem finanziellen Polster aus seinen vorherigen leitenden Tätigkeiten, zuletzt in der Gasmotoren-Fabrik Deutz AG von Nicolaus Otto, ist er in seine schwäbische Heimat zurückgekehrt. Im Gepäck: die Idee eines leichten, kompakten und leistungsstarken Verbrennungsmotors, der sich auch in Fahrzeuge einbauen lässt.
„Garagen-Unternehmer“: Es ist nicht anders als bei heutigen Start-ups. Daimler ist von seiner Idee vollkommen überzeugt und arbeitet im Gartenhaus seiner Villa in Bad Cannstatt mit großer Energie an deren Realisierung. An seiner Seite ist – wie schon zuvor – der geniale Techniker Wilhelm Maybach. Die Welt um die beiden herum jedoch bleibt skeptisch, und so wird den Tüftlern sogar Falschmünzerei vorgeworfen angesichts der lauten Geräusche aus der Werkstatt. Was sie jedoch mühelos widerlegen können.
Revolutionär: Am 16. Dezember 1883 ist es dann so weit. Daimler lässt einen ersten wegweisenden Motor patentieren, der allerdings zunächst noch als Stationäraggregat verwirklicht ist. Die wichtigste Teilinnovation ist die von Maybach erdachte Glührohrzündung, die eine sichere Zündung gewährleistet und die gewünschte Drehzahlerhöhung ermöglicht. Weitere Innovationen sind der Schwimmervergaser und die Kurvennutensteuerung für das Auslassventil. 1884 wird das Prinzip dann in eine kompakte Einheit übertragen, die „Standuhr“. Das Aggregat leistet in seiner ersten Ausführung 0,74 kW (1 PS) bei 600/min. Das klingt nach nicht viel? Weit gefehlt: Damals sind diese Eckdaten sensationell. Denn bei anderen Motoren liegt die Leistung ähnlich, das Drehzahllimit erreichen sie jedoch bei gerade einmal 120 bis 180/min. Und leicht, kompakt sowie mobil sind die anderen Motoren erst recht nicht.
Umfassende Mobilität: Nach dieser grundlegenden Erfindung verfolgt Daimler seine Vision weiter. Er möchte mit dem Motor Verkehrsmittel jeglicher Art antreiben. Der erste Versuchsträger, der sogenannte „Reitwagen“, besteht aus einem hölzernen Rahmen mit einer verkleinerten Ausführung der „Standuhr“, zwei Rädern, einer einfachen Lenkung und einer Sitzfläche. Das ist 1885 das erste Fahrzeug, das mithilfe seines Verbrennungsmotors selbstbewegend ist – auto-mobil im Sinne der entsprechenden lateinischen Wörter. Daimler lässt es als „Fahrzeug mit Gas- bzw. Petroleum-Kraftmaschine“ mit dem Patent DRP 36 423 vom 29. August 1885 schützen. Zugleich ist es das erste Motorrad der Welt. Von da ist es nur noch ein vergleichsweise kleiner Schritt zum ersten vierrädrigen Automobil der Welt, das im Sommer 1886 entsteht: Aus einer eigens erworbenen Pferdekutsche macht Daimler mithilfe der „Standuhr“ seine „Motorkutsche“.
Erfolgsspur: Das Rennen um das erste Automobil hat Gottlieb Daimler zwar knapp verloren. Denn ein anderer umtriebiger Erfinder und Start-up-Entrepreneur hat im Januar 1886 seinen dreirädrigen Motorwagen patentieren lassen, das erste Automobil der Welt: Carl Benz in Mannheim. Was dem Erfolg in Bad Cannstatt jedoch keinen Abbruch tut. Denn als geschickter Geschäftsmann versteht Daimler es, seine Erfindung für begehrte Produkte zu nutzen und auch konsequent weiterzuentwickeln. Er verwendet den universell nutzbaren Antrieb in Land-, Wasser- und Luftfahrzeugen – seine Vision der umfassenden Mobilität wird Realität. Damit erlebt er den frühen Aufschwung seines Unternehmens – jedoch nicht mehr den ganz großen Erfolg des Automobils. Denn Daimler stirbt am 6. März 1900 infolge eines Herzleidens.
Ursprungsort: eine spannende Geschichte also rund um die „Standuhr“. Wer zusätzlich zu einem Besuch im Mercedes-Benz Museum Gottlieb Daimlers Start-up-Spirit schnuppern möchte, kann auch seine ursprüngliche Werkstatt besuchen. Denn das Gewächshaus mit Backsteinanbau in Cannstatt erinnert als kleines Museum bis heute an den außergewöhnlichen Erfinder. Der Eintritt ist kostenfrei.