Goodwood Festival of Speed 2012 – Eine Rückschau

 

Woran denken Sie, wenn Sie an einem Tag drei von vier Jahreszeiten durchleben? Wenn er mit dem Herbst beginnt (sinuskurvenartig aufkommende Böen bei plötzlichem Temperatursturz sowie schwarze Wolken, die an penetranter Inkontinenz leiden), in den Frühling übergeht (allmählich aufklarender Himmel bei angenehmen Temperaturen und schmeichelnd frischer Brise), in den Herbst zurückfällt und Sie zwischendurch mit dem Sommer (brütend warme Sonnenstrahlen, die dazu animieren, sich weitgehend der Textilien zu entledigen) verwöhnt? Richtig, die Antwort heißt England! Genauer gesagt: Südengland und um präzise zu sein: Goodwood!

Zwischen London und Southampton gelegen, wartete drei Tage lang, vom 28.06. bis 01.07.2012, reinstes und typisches britisches Wetter auf die Besucher der 20. Ausgabe des Goodwood Festival of Speed, welches in diesem Jahr unter dem Motto „Young guns – Born to win“ stand und als Reminiszenz an die jungen Wilden unter den Rennfahrern gedacht war. Es geriet zu einem Lotteriespiel, am Morgen die richtige Kleidung für den Tag auszusuchen. Die einzig brauchbare Lösung hieß: Alles mitnehmen, am besten am Mann/an der Frau, um für alle Wetterkapriolen gewappnet zu sein. Der allgemeinen Stimmung freilich tat dies nicht den geringsten Abbruch.

Alle Karten waren bereits im Vorverkauf vergriffen, was einer Zuschauermenge von rund 160000 an allen drei Tagen entspricht, die gekommen waren, um Motorsport einzuatmen. Um sich dem Außergewöhnlichen hinzugeben, das es in dieser Form nur in England gibt oder um Jochen Mass zu zitieren: „Es ist die einzige Veranstaltung weltweit, bei der die Zuschauer hautnah dabei sind.“

Jochen Mass am Start mit dem W125
Jochen Mass am Steuer des W125 kurz vor dem Start

Es hat sich mal wieder die Créme de la Créme eingefunden, im Motorsport-Mekka des Lord March: Der eingangs erwähnte Jochen Mass; der Pink-Floyd-Schlagzeuger Nick Mason; AC/DC-Sänger Brian Johnson; der Le-Mans-Sieger von 1970, Richard Attwood; Sir Jackie Stewart und sein Sohn Paul; der Mille-Miglia-Sieger von 1955, Sir Stirling Moss; DTM-Champion und AMG-Markenbotschafter Bernd Schneider; Ex-Porsche-Fahrer Brian Redman; Le-Mans-dreifach-Champion Klaus Ludwig; die Formel-1-Protagonisten Alain Prost, Nick Heidfeld, Sebastian Vettel, Mark Webber, Marc Gene, Lewis Hamilton, Nick Heidfeld und Nico Rosberg, um nur einige zu nennen.

Rennfahrer unter sich
Fachsimpelei unter seinesgleichen (v.l.n.r): Bernd Schneider, Paul Stewart und Jochen Mass kurz vor ihrem Einsatz

Mercedes-Benz hat sich die Mühe gemacht, gleich sechs seiner Meilensteine der Firmengeschichte aufzufahren, wobei einer davon allerdings nur statisch in der Boxengasse zu bewundern war. Dabei handelte es sich um den 300 SLR (W196S) mit der legendären Mille-Miglia-Startnummer von 1955, der 658! Legendär deswegen, weil Juan Manuel Fangio mit diesem Wagen als Solofahrer zweiter im Gesamtklassement des damaligen „1000-Meilen-Rennens“, nach Stirling Moss und Denis Jenkinson, wurde.

300 SLR W196S
300 SLR mit bewegter Historie

Im Rahmen des Jubiläums „60 Jahre SL“ wurden auch zwei 300SL in den Goodwood-Park geschafft. Darunter der älteste bekannte SL mit der Chassisnummer „2“. Dieser W194 wurde gekonnt pilotiert von Bernd Schneider, AMG-Markenbotschafter und überaus erfolgreicher DTM-Rennfahrer. Der zweite 300SL aus der Baureihe W194 wurde Paul Stewart anvertraut, der privat selbst einen 300SL besitzt und mit Begeisterung fährt, wie er selbst sagt und fügt hinzu, es als Privileg anzusehen, für Mercedes-Benz eben dieses Fahrzeug bei dieser Veranstaltung fahren zu dürfen.

300 SL W194 No2
Bernd Schneiders „Arbeitsplatz“ fürs Wochenende

300 SL W194
… und der für Paul Stewart

Schneider, gebürtiger Saarländer, gibt sich während der gesamten Veranstaltung unprätentios und als Rennfahrer zum Anfassen. Seine lockere und dabei nie flapsige Art weiß zu begeistern. Im ständigen Bewusstsein der Formel-1-Verrücktheit der Briten schreibt er pausenlos seinen Namen auf unzählige Fotos oder Bücher, die ihn zu seiner aktiven Rennsportzeit in der DTM oder der Formel 1 zeigen.

Bernd Schneider wird von Classic-Mitarbeiter Vincenzo Carlucci eingewiesen
Bernd Schneider wird vom Mechaniker des Classic Centers, Vincenzo Carlucci, in den 300SL eingewiesen

Das Goodwood Festival of Speed wäre nicht das Goodwood Festival of Speed, wenn nicht auch Respekt den Fahrzeugen gegenüber gezollt würde, die aus den Anfangstagen des Rennsports stammten. Die Daimler AG hat aus diesem Anlaß, und aufgrund des 75-jährigen Jubläums, einen der beeindruckendsten Rennboliden der Firmengeschichte an die Südküste Englands entsandt. Den perfekten Vertreter der erfolgreichen Rennsaison von 1937: Den W125! 8 Zylinder in Reihe entfesseln in dieser Ausführung aus knapp 7 Litern Hubraum gut 464 PS, die Jochen Mass jedoch mit einer Leichtigkeit beherrscht, daß sich Ehrfurcht breit macht, wenn dieser große Mann des Rennsports „das Biest“ den gut 1,8 km langen Bergkurs emporjagt.

W125 im Fahrerlager
Noch „schläft“ der W125 – noch!

Regelmäßig laufen Menschen begeistert zusammen, bildet sich eine gigantische Traube um den Wagen, wenn der Daimler-Classic-Mechaniker Manfred Oechsle das Triebwerk mit kurzen aber kontinuierlichen und dabei ohrenbetäubenden Gasstößen auf den bevorstehenden Einsatz warmlaufen lässt.

W125 im Warmlauf
Classic-Center-Mechaniker Manfred Oechsle bringt den Motor auf Temperatur

Wie beliebt Jochen Mass bei den Briten ist, beweist das unermüdliche Autogrammschreiben, sobald er sich im Mercedes-Benz-Fahrerlager einfindet. Für jeden hat dieser sympathische Rennfahrer ein freundliches Wort übrig und lässt sich bereitwillig mit seinen zahlreichen Fans ablichten. Er praktiziert und lebt vor, was er selbst als Maßstab für das Festival of Speed sieht. Es ist der soziale Aspekt, der ihn wieder und wieder nach Goodwood zieht. Der Kontakt zu ehemaligen Kollegen, ob es Rennfahrer oder Mechaniker sind. Für Mass gibt es keinen Standesdünkel, er freut sich über jedes ihm bekannte Gesicht. Daß er das Fahrzeug des ehemaligen britischen Rennfahrers und viel zu früh verstorbenen Talents John Richard „Beattie“ Seaman dem hiesigen Publikum vorführen darf, erfüllt ihn offenbar mit besonderem Stolz, denn genau mit diesem Wagen ist Seaman einst in Donington, in seinem letzten Rennen der Saison 1937, gestartet.

Jochen Mass gibt bereitwillig Autogramme
Jochen Mass gibt bereitwillig Autogramme

Als Vertreter der jüngeren Renngeschichte der Marke fungierte der CLK-GTR mit AMG-Triebwerk aus dem Jahre 1997. Die Ehre, dieses Fahrzeug dem dauerbegeisterten Publikum vorzuführen oblag Klaus Ludwig, dem jeweils dreifachen Le-Mans- und DTM-Sieger.

CLK-GTR
Der Mercedes-Benz DTM-Bolide CLK-GTR

Der Kontrast der ausgestellten Wagen könnte größer nicht sein, spiegelt jedoch eindrucksvoll die wechselvolle Rennhistorie der Marke mit dem Stern wider. Leider konnte Ludwig die aus 600PS abzurufenden 345km/h aufgrund der Kürze der Strecke nicht ausfahren, obwohl der V12 mit seinen 5986ccm mit jedem Einsatz förmlich danach schrie.

Gediegen und gemächlich hingegen ging es auf dem parallel stattfindenden Cartier-Concours zu, auf welchem Mercedes-Benz-Classic aufgrund des 60-jährigen-Thronjubiläums von Königin Elizabeth II ihre in Anmutung und Eleganz bis heute unerreichte Staatslimousine 600, in Landauletausführung, der Baureihe W100 ausgestellt hatte.

Mercedes-Benz 600 Landaulet
Das Mercedes-Benz 600 Landaulet fährt in Position für die Nabelschau der Staatskarossen

Dieses Fahrzeug kam am Samstag und Sonntag beinahe schon staatstragend zum Einsatz, als es zum Defilée aller Staatskarossen kam, in denen die Königin während ihrer Regentschaft je chauffiert wurde. Als Gast beförderte der Classic-Center-Leiter Klaus Reichert mit offenem Verdeck den Air Marshall Sir Walker, der sichtlich Freude am „Großen Mercedes“ hatte.

Endstation der kleinen Rundfahrt, mit anschließendem Feuerwerk nebst Salutschüssen, war der Vorplatz vor dem beeindruckenden Goodwood House, Stammsitz des Earl of March and Kinrara, besser bekannt als Lord March. Die Luxuslimousinen drapierten sich rund um die Skulptur des Bildhauers Gerry Judah, der sich dieses Jahr wieder selbst übertraf: Auf ineinander verschlungenen, stilisierten „Rennbahnen“ setzte die diesjährige Sponsormarke Lotus zahlreiche Rennwagen in waghalsigen Positionen publikumsgerecht in Szene. 2001 hatte Gerry Judah dem 300SL vor Goodwood House ein künstlerisches Denkmal gesetzt.

Goodwood-Skulptur Lotus
Die gelungene Skulptur des Künstlers Gerry Judah

Doch mit Besonderheiten war damit noch nicht Schluß. Mercedes-Benz hatte sich das Festival of Speed als würdigen Rahmen für eine Weltpremiere ausgesucht. Der neue CLS Shooting Brake, die gelungene Mischung zwischen Coupé und Kombi, hatte sowohl auf dem großzügig bemessenen Stand der Marke als auch auf der Rennstrecke die Gelegenheit, sich dem Publikum von zwei Seiten zu zeigen.

Mercedes-Benz CLS 500 Shooting Brake
Der Wolf im Schafspelz

Einmal als „zivile“ CLS 500-Version für die Besucher zum Anfassen und einmal als „scharfe“ AMG-Version mit 6,3 Litern Hubraum und auffälligem Safari-Look, die von Bernd Schneider in bester DTM-Manier zur Freude der Anwesenden über den Asphalt gescheucht wurde. Der Resonanz der Motorsportbegeisterten nach, kann diese Premiere als gelungen bezeichnet werden.

Mercedes-Benz Shooting Brake AMG 6.3
Kraftpaket auf Rädern

So endete nach drei ereignisreichen Tagen auch dieses Festival of Speed im Donner der Motoren und das infernalische Aufbrüllen der 8 Zylinder des mythischen W125, an die Trompeten von Jericho erinnernd, wird den Besuchern noch lange im Ohr nachhallen.

300SL und W125 am Start
Gleich donnern sie los – die Trompeten von Jericho
Alle Bilder von Mario De Rosa