Herbst 1936: Geschwindigkeitsrekord 372,102 km/h – eine genauere Betrachtung !

 

Herbst 1936: Geschwindigkeitsrekord 372,102 km/h – Anmerkungen und Fortsetzung zu dem MB Classic Artikel vom 21.10.2016 oder

40 Jahre Altmetall

Der Beitrag von MB Classic bezeichnet den Rekordwagen als auf dem W25 basierend, was bezüglich des Rahmens auch korrekt ist, gleichwohl zeigt die Konstruktion – wie wir später sehen werden –  zahlreiche von Rudolf Uhlenhaut für den späteren W 125 erdachte und realisierte Features.

Bleiben wir zunächst bei den „Reifenversuchen“. Dafür spricht zum einen der technologische Aufwand, den die Conti bereits in den 30er Jahren getrieben hat, um Rennreifen für Geschwindigkeiten über 200 km/h zu entwickeln. Dazu müssen wir uns der Tatsache bewusst sein, dass erst die Einführung der Autobahn Geschwindigkeiten über 100 km/h ermöglichte. Verglichen mit den 160 km/h eines 500K oder eines BMW 328 sind die 1936 erreichten 372 km/h eine gewaltige Steigerung, die einer sorgfältigen Erprobung auf der Straße bedurften.

Ein kleines Beispiel für die Akribie, mit der die Conti die Rennreifenentwicklung betrieb, mag der Lieferschein vom 10.August 1939 sein, der außer Dimension, Design und Gewicht für jeden einzelnen Reifen eine Identnummer angibt.

Lieferschein der Conti vom 15. August 1938 an die Auto Union Sächsisches Staatsarchiv

Lieferschein der Conti vom 15. August 1938 an die Auto Union   Sächsisches Staatsarchiv

Weiteres Indiz für „Reifenversuche“ ist die Anwesenheit des Conti-Ingenieurs Dietrich, in der zeitgenössischen Fachliteratur als „Reifenmeister“ oder – wegen seines Barts – liebevoll als „Schnurrbiber“ bezeichnet.

Sehen wir uns das nächste Foto an, so erkennen wir den aus der Karosserie ragenden Hinterreifen mit einem deutlichen Längsprofil und in angespannter Beobachtung des Reifens Rudolf Uhlenhaut (mit Brille) und Reifenmeister Dietrich (mit Hut). Aus einer Korrespondenz ist dem Autor bekannt, dass die Conti bei sämtlichen Rekordversuchen jegliche Garantie für das Halten der Reifen abgelehnt und Probefahrten und Beobachtung der Reifen empfohlen hat. Und dieser Forderung und der gebotenen Verantwortung gegenüber dem Fahrer ist die Tatsache der abnehmbaren Abdeckung der Hinterräder geschuldet. Caracciola ist also zunächst ohne die Abdeckung gefahren und die Ingenieure haben die Reifen nach jedem Lauf genau inspiziert.

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Inspektion der 22 Zoll Rennreifen mit Längsprofil durch Rudolf Uhlenhaut (mit Brille) und Reifenmeister Dietrich (mit Hut) Foto Kurt Woerner

Mit der Prüfung und Freigabe der 22 Zoll-Reifen waren die Reifenversuche erfolgreich abgeschlossen und man konnte mit den Rekordversuchen beginnen

Die Kontrollfenster wurden beim Avusrennen 1937 für die vollverkleideten Auto Union und Mercedes GP-Wagen aus Sicherheitsgründen beibehalten.

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Beim Avus-Rennen 1937 – hier der spätere Sieger Hermann Lang – hatten die Stromlinienwagen kleine Fenster, um den Zustand der Reifen kontrollieren zu können   Foto Daimler          

Auf die – auch politisch motivierte – Bedeutung der Rekordfahrten auf der Autobahn – „der Straße des Führers“ – wird im Artikel hingewiesen. Ein weiterer Grund für den gewaltigen technologischen Aufwand für diesen Rekordwagen dürfte das im Grand Prix Sport für Mercedes wenig erfolgreiche Jahr 1936 gewesen sein, in dem Mercedes außer dem Monaco Grand Prix kein bedeutendes Rennen gewinnen konnte und in der zweiten Hälfte der Saison auf eine Teilnahme verzichtete.

1936 ist auch das Jahr des jungen Ingenieurs Rudolf Uhlenhaut, der im August 1936 auf dem Nürburgring mit den Fahrern Caracciola und Brauchitsch als wissenschaftlich zu bezeichnende Versuche unternahm, aus denen 1937 die dem Auto Union Typ C gewachsene, wenn nicht überlegene Konstruktion des W 125 entstanden ist.(siehe www.zwischengas.com/de/HR/rennwagenberichte/Rudolf-Uhlenhaut-und-der-Mercedes-Benz-W-125-Rennwagen.html)

Wurden im Jahr 1935 von Auto Union und Mercedes noch geschlossene, von den Fahrern wenig geliebte „Rennlimousinen“ eingesetzt, so experimentierten ab 1936 beide Firmen mit offenen Cockpits.

Mercedes hatte zwei Varianten zur Auswahl: einen abgerundeten Windabweiser mit relativ steilem Anstieg und eine eckige Version mit flachem Anstieg.

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Windabweiser Variante 1  Foto Daimler

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Windabweiser Variante 2   Foto Kurt Woerner

Werfen wir nun einen Blick auf das Chassis, so erkennen wir an diesem Rekordwagen bereits die technische Brillanz des Ingenieurs Uhlenhaut. Der Rahmen ist noch der mit Erleichterungsbohrungen versehene Kastenrahmen des W 25. Die Position der Kardanwelle allerdings ist bereits eine andere, wesentlich tiefer liegende. Diese Maßnahme war bei einem Grand Prix-Wagen mit Frontmotor nötig, da der Fahrer über der Kardanwelle sitzt. Um eine tiefe Sitzposition und damit einen tiefen Schwerpunkt zu ermöglichen, wurde der neu konstruierte 12-Zylinder V-Motor tief ins Chassis eingebaut, die Kardan- welle unter dem Fahrersitz hindurchgeführt und vor dem Differential über das Transaxle-Getriebe und einen Z-Antrieb auf die erforderliche Höhe der Hinterachse gebracht. (Erst im 1938er W 154 hat Uhlenhaut den Motor seitlich versetzt schräg eingebaut und so die Kardanwelle am Fahrer vorbei geführt.)

img_0700Hinterachse des Rekordwagens: Transaxle mit Z-Antrieb, de-Dion-Rohr mit Gleitsteinführung, Antriebswellen, Vierteleliptikfedern, Abstützung nach hinten   Foto Martin Schröder

Die Hinterachse ist als De-Dion-Achse ausgelegt, bei der die Räder im Gegensatz zur Pendelachse im W25 stets im gleichen Winkel zur Straße stehen. Das Mittelteil läuft in einem sog. Gleitstein im Differentialgehäuse und übernimmt damit sie Querführung der Hinterachse. Das Transaxle-Gehäuse ist am Chassis befestigt und somit gefederte Masse. Die Hinterräder werden durch rechts und links angebrachte Vierteleliptikfedern abgestützt. Eine eigens für die Rekordfahrt konstruierte Längsführung der Hinterachse ist die Abstützung nach hinten auf dem äußersten Punkt, der noch von der Karosserie abgedeckt wird. Mit diesem Kunstgriff erreicht Uhlenhaut quasi eine Verlängerung des Radstands eingedenk der Maxime „Länge läuft“.

Wenn wir uns diesen gewaltigen technologischen Aufwand allein für die Hinterachse ansehen, dann wird klar, welche Bedeutung Mercedes diesen „Reifenversuchen“ mit anschließenden Rekordversuchen beigemessen hat.

Wenden wir uns nun der Karosserie zu, die nach der Rekordfahrt offensichtlich bei Mercedes vom Chassis getrennt wurde, denn bis in die siebziger Jahre stand das Chassis allein bei Mercedes. Anfang der achtziger Jahre hat dann die Firma Feierabend im Auftrag von Mercedes eine neue Karosserie für den Wagen gebaut, die der Autor dieser Zeilen 1986 im damaligen Nürburgring-Museum fotografiert hat.

mb-rek-wg-neue-kaross-n-ring-museum-1988Der Rekordwagen mit neuer Karosserie 1986 im Nürburgring-Museum    Foto Martin Schröder

Wo hat die originale 1936er Karosserie überlebt? Sicher ist nur, dass sie als „Altmetall“ außerhalb der Firma eine – wie man den Spuren erkennen kann – wenig angemessene Existenz geführt hat, bis sich in den siebziger Jahren das Interesse an alten Autos und damit an „Altmetall“ entwickelte. Mario Linke, Bernd Wallmeier, ein italienischer Karosseriebauer, schließlich Egon Zweimüller sind die Stationen, durch deren Hände die Karosserie gegangen ist, bevor sie bei einem deutschen Sammler eine Heimat gefunden hatte. Aus dem W25 war inzwischen ein W125 geworden und der Sammler hatte vor, die Karosserie auf ein W 125-Chassis zu bauen und ein rollendes Exponat zu erstellen.

Im Jahr 2007 hörte der Autor dieser Zeilen gerüchteweise von der Existenz der originalen Karosserie und nahm als Kurator des im Werden begriffenen Museums Prototyp Kontakt mit dem Sammler auf und konnte ihn bewegen, die Karosserie als Leihgabe nach Hamburg zu geben. Dort hing sie upside-down zwei Jahre über dem Le Mans-Wagen von Audi.

 

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Von der Eröffnung 2008 bis 2009 hing die originale Karosserie upside-down im Museum Prototyp      Foto Alamy  

Der Zufall hat dann im Jahr 2009 den Besitzer der Karosserie und Michael Bock anlässlich einer Veranstaltung im Audi museum mobile zusammgeführt, und aus dieser Begegnung ist dann „zusammengewachsen, was zusammengehört“, indem die Karosserie wieder in den Besitz von Mercedes zurückfand.

Sichtbarer Ausdruck davon war die Ausstellung „Tafelsilber“ im Audi museum mobile, wo die originale Karosserie über dem originalen Chassis präsentiert wurde.

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„Zusammengewachsen, was zusammen gehört“ – Die originale Karosserie über dem originalen Chassis, Ausstellung Tafelsilber im Audi museum mobile      Foto Martin Schröder

Zum Ausklang dieser Odyssee ist mit der Konstellation originale Karosserie für statische Präsentation und neue für bewegte Präsentation eine mögliche Antwort auf die Frage „Original und …“ gegeben.

 

Wir danken Martin Schröder ganz besonders für diesen Artikel und wünschen nachträglich alles Gute zu seinem runden Geburtstag! – Jörg Maschke OldtimerTicker