MBMC: Ein Fortsetzungs-Roman mit einem 500K in der Nebenrolle – Teil 5

Der schwarze, der graue, und…der „braune Markt“

  • Ja, woher kommt das notwendige Benzin für die wenigen Automobile her, deren Besitzer eine  Sondergenehmigung zur Benutzung Ihrer Vehikel bekommen hatten?
  • Woher kommen die Lebensmittel, die Luxusartikel, die es erlauben, den großen Hotels, (Ritz, Claridge, Lutetia, usw.), Luxusrestaurants (Maxim’s, LeDoyen, La Tour d’Argent, Prunier, Traktir…) und den Kabaretts der oberen Klasse (Moulin Rouge, Tabarin, << Restaurant des Hotel Ritz – Place Vendôme – Paris (1942) – Nur in Zivil bitte Shéhérazade, Casino de Paris) die gleichen Speisen auf ihren Menus anzubieten, wie vor dem Krieg??

Da gibt es zur Antwort nur drei Worte: Schwarzmarkt, Schmuggel, Verbindungen. Da die menschliche Natur nun mal so ist, wie sie ist, blüht die Korruption auf allen, hoher wie auch auf niedriger Ebene. Außer bei den „kleinen Leuten“: wer keine Verwandte auf dem Lande hatte, von denen man ab und zu mal ein Paket mit Lebensmittel beziehen konnte, der musste sich öfter als genug mit Kurbis und Steckrüben begnügen. Es gibt heute noch alte Franzosen, die allein schon allein bei der Erwähnung des Wortes „Rutabaga“, will heißsen „Steckrübe“, anfangen zu würgen.

Als im Juni 1940 die ersten Rationierungen der Lebensmittel in Kraft traten, nahmen mehr und mehr Pariser den Zug oder radelten auf’s Land, um direkt bei den Bauern einzukaufen, was gerade so zu bekommen war.  Tatsächlich konnten sich die Staatsbahnen SNCF sich nicht um Zulauf beklagen. Laut vorliegender Statistiken waren die Züge von Paris aus in Richtung Provinz und zurück jedes Wochenende überfüllt. Fahrräder gab es in Frankreich im Überfluss, und  es war unter den Umständen das Fortbewegungsmittel „par excellence“ geworden: Laut dem „französischem Institut National de la Statistique et  des Études Economiques (Insee)“ gab es 1940 allein in Paris genau 2.211.950 und im gesamten Land ca. 10.700.000 Zweiräder, von denen täglich viele gestohlen wurden, um am nächsten Tag an anderer Stelle erneut gestohlen zu werden.

Wenn die Pariser aufs Land gingen, und direkt beim Gärtner, Bauern oder im Laden einkauften, sozusagen vom Erzeuger zum Einzelkunden unter Umgehung des Zwischenhändlers, dessen Handelsspanne, und damit auch unter Umgehung der Besteuerung, dann ist damit der Begriff „Grauer Markt“ gemeint. Illegal wie diese Praxis zwar ist, wäre sie insbesondere in Kriegszeiten angesichts der allgemeinen Knappheiten verständlich, würde der Anbieter nicht oftmals den auch noch überhöhten Einzelhandelspreis kassieren, und für sich das Gesamte behalten, Steuern inklusive… Aber das störte 1940 keinen Pariser übermäßig, hatte er doch mit einem bisschen Glück auf der Fahrt zurück in die Stadt wieder etwas Fleisch, Geflügel, Butter vielleicht, ein paar Kartoffeln, ein wenig Gemüse und vielleicht auch noch eine Handvoll Obst in seinem Koffer oder Rucksack.

Natürlich waren Graumarkt und Schwarzmarkt rechtswidrig, und Kontrollen fanden unangekündigt von der Polizei auf der Strasse, und bei der Ankunft der Züge auf den Bahnsteigen statt. Aber es drückten mehr als nur ein paar Beamte die Augen zu. Ganz pfiffigen, meist jungen Frauen, die sich sichtlich mit ihrem schweren Koffern abmühten, gelang es mit einem verlegenen Lächeln und Augenlidschlag, das ritterliche Herz eines  Polizeibeamten zu wecken, der im Nu zum Gepäckträger wurde!

Männer hatten da weniger Glück, doch auch hier kamen viele dank kleiner Tricks durch die Kontrolle. Wer z.B. kontrolliert denn schon einen mit einem Mechaniker-Overall bekleideten Mann, der über der Schulter ein geknicktes Ofenrohr trägt? Auf jeden Fall machte es die Krümmung möglich und einfacher, das mit  Lebensmitteln gefüllte und an beiden Enden verschlossene Ofenrohr zu tragen, ohne Aufmerksamkeit zu erregen….

Der Schwarzmarkt „Großhandel“

Schwarzmarkthändler suchten nicht wahllos auf dem Land nach Lebensmitteln, die sie benötigten. Es waren bestimmte ländliche Regionen, bestimmte Départements die ihnen regelmäßig eine bestimmte Ware lieferten. Die mit den Erzeugern ausgehandelten Ankaufspreise ermöglichten den professionellen Schmugglern hohe, man könnte auch sagen obszöne, Gewinne.

  • Sie kauften Kartoffeln für 3 Francs pro Kilo in der Region der Vienne (südlich der Bretagne), für 4 oder 5 Francs in der Region Lille (Nord Frankreich), und verkauften sie für 12 bis 15 Francs in Bordeaux oder Paris.
  • Sie kauften Schinken in dem Département Aube (östlich von „Groß-Paris“ bzw. circa halbwegs zwischen Paris und dem Elsass), zahlten 180 oder 200 Francs pro Kilo, und verkauften ihn für 1.000 Francs in Lyon.
  • Für Eier, die übrigens am zweithäufigsten beanstandet wurden, werden in den Produktionsgebieten 20 bis 35 Francs pro Dutzend bezahlt, und für 96 bis 120 Francs an die Bewohner von Lille verkauft, 180 Francs an deutsche Soldaten und 240 Francs an Belgier. Hier stellt sich die Frage, was hatten die Schmuggler wohl gegen Belgier?

Der Schwarzmarkt „Einzelhandel“

Wenn die Lebensmittel in den großen Stadtzentren angekommen sind, müssen sie im Einzelhandel  weiterverkauft werden, und zwar so schnell wie möglich; einerseits wegen der Frische der Waren, andererseits um nicht aufzufliegen. Es sind vor allem Hausmeister, Kellner, Friseure und Friseurinnen, die die auf dem Schwarzmarkt verkauften Lebensmittel absetzen. Wie Pierre Audiat, der Autor einer Studie über die „Mechanismen“ des französischen Schwarzmarkts, humorvoll erzählt, “… besorgen Sie sich den Schinken um Himmels Willen nicht beim Metzger, sondern beim Friseur. Diese gute, illegale Butter (die nichts mit der Butter gemein hat, die – wenn vorhanden – hinter der Ladentheke verkauft wird, und die aus dem „Auskratzen“ der Eimer aus den von der staatlichen Versorgung zugeteilten Kontingenten stammt), von der hat Ihre Molkerei keine Ahnung, aber der Hausmeister in dem einen oder anderen Haus in der einen oder anderen Straße, oder aber der Haushaltgerätehändler an der Ecke, die geben Ihnen vielleicht etwas davon ab, wenn der eine oder der andere Sie kennt, oder wenn Sie von “einem Freund geschickt“ kommen, dessen geheimnisvoller Name Ihnen zugeflüstert wurde.

Es gibt sogar Schwarzmarkthändler, die ihr Gewerbe fast offen ausüben. So wurden 1944 in den Gängen der Metro sozusagen „auf der Straße“ Bücklinge für 10 oder 12 Francs pro Stück und weiße Champignons für 80 oder 100 Francs pro Kilo verkauft. Und die Käufer reißen sich um diese Lebensmittel…“

Ob man es glaubt oder nicht, es waren auch Wehrmachtsangehörige am Grauen Markt beteiligt, nicht Anfangs so sehr als, man staune, nach der Landung der Alliierten 1944 in der Normandie. Je mehr die Wehrmacht auf dem Rückzug war, desto mehr Lebensmittel waren plötzlich in Pariser Küchen zu finden. So widersinnig, wie das klingen mag, die von der Front nach Paris fahrenden Militärtransporte waren nicht nur mit zurückkommenden verletzten Soldaten beladen. In den Lastwagen befand sich auch Butter, Geflügel, Camembert-Käse, und mehr noch, alles Waren, die die Wehrmachtsfahrer auf der „Esplanade des Invalides“ ganz offen zu überhöhten Preisen an die Hausfrauen verkauften, zumindest an die, die keine Angst davor hatten, beim Feilschen mit dem Feind erwischt zu werden.

Den Begriff „Schwarzmarkt“ zu erläutern, ist, wie jeder weiß, denkbar einfach: es ist der verbotene Handel, mit Waren, die äußerst selten sind, gesucht werden, oder gar verboten sind, und auf dem „normalen“ Weg nicht zu finden sind. Der Schwarzmarkt und das damit verbundene Schmuggeln ist, im Gegensatz zum „Braunen Markt”, eine jahrhundertealte Institution.

Eine der besonders tolldreisten Unternehmungen in der Geschichte des französischen Schwarzmarktes dürfte der Parmesan-Coup gewesen sein. Nachdem Mussolinis Italien 1936 Äthiopien besetzt hatte, verhängte die
französische Regierung ein totales Embargo gegen italienische Produkte. Die illegale Aktion war der erfolgreiche (und nur einmalige) Schmuggel über die italienisch-französische Grenze von 34 Tonnen Parmesan-Käse, zur Versorgung der italienischstämmigen Bevölkerung in Marseille und Umgebung, mit einer für Sie unverzichtbaren und plötzlich unerreichbaren Beilage italienischer Küche.

Bedenkt man, dass die mittlere durchschnittliche Höhe eines „Parmigiano Reggiano“-Käserads seit eh und je ca. 40 bis 46 cm (16-18“) ist, der Durchmesser ca. 46 bis 61 cm bis (18-24“) beträgt, und jedes Rad 38 Kilo (84 lbs) schwer ist, so entspricht dieser Parmesanschmuggel 894 Käserädern. Da kann man nur staunen und stillschweigend eigentlich auch ein wenig bewundern, wie die Gauner das geschafft haben. Da mag wohl (sicherlich?) der eine oder der andere französische Zöllner für sein Stillschweigen ein Käserad kostenlos abbekommen haben.

Da die Regierung auch nach Kriegsende nicht Herr des Problems werden konnte, wurde am 2. Oktober 1946 ein Gesetz verabschiedet, das den Schwarzmarkt zu einem Verbrechen machte, auf das die Todesstrafe stand. Es dürfte nicht verwunderlich sein, dass das Gesetz umgehend radikale Wirkung zeigte!

Was den so genannten „Braunen Markt“ betrifft, so war das ein Phänomen des Zweiten Weltkrieges. Der „braune Markt“ bezeichnete den Verkauf von Waren und Erzeugnisse an die Beschaffungsbüros der Deutschen Gestapo durch Schmuggler und Ganoven, die sich zahlreicher krimineller Zwischenhändler bedienten. Die betroffenen Waren waren alles, was die Gauner aufspüren, beschlagnahmen oder erpressen konnten, von feinen Weinen, Spirituosen und Feinkost, bis hin zu Nichteisenmetallen, Stoffen, Ersatzteilen, Benzin, Reifen, usw… Auf dem braunen Markt erwirtschafteten die französischen Hilfstruppen der Gestapo größte Vermögen. Es heißt, dass die „Carlingue-Leute“ bis zu 20% des Wertes der beschlagnahmten Waren als „Provision“ bekamen.

Diese wie die berüchtigte und gefürchtete Verbrecher-Bande der „Carlingue“ um Henri Lafont und dem  ehemaligen korrupten Polizisten Pierre Bonny (auch Bony geschrieben) rekrutierten sich aus dem kriminellen Milieu der Pariser Unterwelt der Vorkriegszeit, und hatten ihr Hauptquartier – dem der sogenannten „französischen Gestapo“ – 93, Rue Lauriston, im 16. Arrondissement von Paris.

Die „französische Gestapo“ bekannt als „la Carlingue“.

Ausgestattet mit einem deutschen Ausweis waren sie unter der Besatzung unantastbar und betätigten sich in Erpressung, auf dem Schwarzmarkt, und in der Prostitution. Darüber hinaus erfüllten sie ihre „offiziellen“ Aufgaben wie das Aufspüren von Juden und jedem der ihnen irgendwie missfiel, die Beschaffung von Informationen, und die Durchführung von Operationen gegen den „Maquis“, den französischen Widerstand, der eher bereit war, oftmals unvorsichtigerweise Informationen an seine eigenen Landsleute weiterzugeben. Der Zulauf war erstaunlich rege: laut Monsieur Henri Longuechaud, ehemaliger Polizist im Ruhestand „können die Zahlen von 30.000 bis 32.000, die manchmal als Mitglieder der ‚Carlingue‘ genannt werden, einen skandalisieren. Als die Deutschen in Paris eine  Rekrutierungskampagne für 2.000 Hilfspolizisten in ihrem Gestapo-Dienst starteten, erhielten sie nicht weniger als 6.000 Bewerber“.

Nach der Befreiung im Jahr 1944 wurden viele von ihnen gefasst, vor Gericht gestellt und zum Tode verurteilt. Pierre Bonny, der korrupte ehemalige Polizei-Inspektor, wird nach einem kurzen Prozess zu Tode verurteilt, und am 27.12.1944 hingerichtet. Heute wird das, in Betracht der Anklageliste seltsam kurze Gerichtsverfahren, das am 1.12.1944 anfing und bereits nach 10 Tagen mit einem Todesurteil am 11.12.1944 beendet wurde von Historikern, als nicht ganz einwandfrei, mehr rasche Vergeltung als Rechtsprechung betrachtet.

Zudem wollte man wohl verhindern, dass Bonny Namen nannte, zumal er bei seinen Verhören bereits begonnen hatte, einige hunderte von wichtigen Pariser Politikern, Persönlichkeiten, und Geschäftsleuten zu belasten, und gedroht hatte, vor Gericht noch viel mehr zu implizieren.

Henri Lafont, eigentlicher Name Henri Chamberlin, mit Bonny Begründer der „Carlingue“ also der „französischen Gestapo“, war seit seiner Jungend in Diebstählen und Hehlerei verwickelt. Nach seinem Militärdienst wurde er wegen Hehlerei zu zwei Jahren Gefängnis, und 10 Jahren Verbannung aus Paris, verurteilt. Während seiner Zeit im Knast macht er die Bekannntschaft von späteren Mitarbeitern, die er in die “Carlingue“ holt.

Als nach der Besetzung von Paris der SD nach Hilfskräften unter der französischen Bevölkerung sucht, meldet sich Henri Lafont sofort, und wird vom Beschaffungsbüro der Abwehr als Einkaufsagent eingesetzt, mit dem
Ziel französischen Reichtum und versteckte Waren, auch Waffenlager aufzuspüren, und zu beschlagnahmen. Am 30. August 1944 wird er schließlich mit einigen Komplizen in einem Dorf in dem Département Seine-et-Marne von Männern der FFI (Forces Françaises de l’Intérieur – bewaffnete Résistance Kämpfer, die sich als „Französische Inlandsstreitkräfte“ bezeichneten) und Agenten des Nachrichtendienstes der Polizeipräfektur
unter Leitung des Kommissars Clot verhaftet, und der Pariser Justiz übergeben.

Andere tauchten unter, fingen jedoch bald neue Karrieren an: zum Beispiel Georges Boucheseiche, ein
ehemaliger „Carlingue“-Agent, der 1972 oder 1974 in Marokko starb. Er war in der Nachkriegszeit für den SDEC, dem französischen Auslandsnachrichtendienst, als „barbouze“ also als verdeckter Ermittler tätig, zuständig „für besondere Aufgaben”. Er war eben sozusagen ein Spezialist auf seinem Gebiet, und der SDEC wollte wohl nicht auf seine „Carlingue“-Erfahrung verzichten, so tat er für die französischen Behörden weiterhin bis in die sechziger Jahren hinein das, was er am besten konnte.

Er spielte auch eine Rolle im größten Skandal der sechziger Jahre in Frankreich, der „Affaire Ben Barka“, die bis heute noch nicht gelöst ist, und in der die marokkanischen und die französischen Geheimdienste ihre Finger hatten: es war das die Entführung des linken marokkanischen Politikers Mehdi Ben Barka am 29.Oktober 1965, am helllichten Tag in Paris vor der voll besetzten Terrasse der „Brasserie Lipp“, und dessen anschließendes Verschwinden. Interessanterweise fliegt Boucheseiche am 1. November nach Casablanca, um bis zu seinem Tode nie wieder französischen Boden zu betreten.

Ein weiteres Beispiel ist der Gangster François Spirito, ebenfalls „Carlingue“-Mitglied, der 1944 nach Spanien und von dort über Süd-Amerika nach New-York floh, dort die „French Connection“ – auch manchmal „Corsican Connection“ bezeichnet – mitbegründet, und sich bis zu seiner Verhaftung und der anschließenden zweijährigen
Gefängnisstrafe in Atlanta dem Drogenhandel widmete. Anschließend wird er nach Frankreich ausgewiesen, dort lebt er zurückgezogen vonden Geschäften in Toulon, und stirbt am 9. Oktober 1967.

Als 1944 im Rahmen der Befreiung von Paris das Gebäude der “Carlingue“ gestürmt wurde, fand die Polizei im Keller was man als den „Schatz der französischen Gestapo“ bezeichnen kann: Gold und Wertsachen im Wert von damaligen 100.000.000 Francs.

Zusammenfassend gibt es wohl kaum eine bessere Beschreibung als die im „Wall Street Journal“ vom 3. Januar 2009, mit der Rezension des kurz zuvor erschienenen Buches „The Shameful Peace“ des englischen Historikers und ehemaligen Diplomaten Frederic Spotts: „Die Geschichte Frankreichs unter deutscher Herrschaft während des Zweiten Weltkriegs ist eine deprimierende Geschichte von Kollaboration, Korruption und anschließender Verleugnung, die selbst den entschlossensten Frankophilen überfordert.“

Die Verbindung Roulotte, Monocle, … und Carlingue?

Am frühen Morgen des 26. April 1944, auf der „Route Départementale 27“- Landstraße in der Normandie; in einer Kurve zwischen den Ortschaften Epaignes und Lieurez liegen 8 Männer im Hinterhalt; 5 im Graben auf der
einen, 3 auf der anderen Straßenseite, Maschinengewehr im Anschlag. Alle acht sind Mitglieder der Résistance-Gruppe „Surcouf“. Kommandant der Gruppe ist Robert Leblanc, der, Feldstecher vor Augen; im Gras liegend nach einem schwarzen Citroën 11CV Traction-Avant Ausschau hält. Als der Wagen schließlich mit Tempo vorbeifuhr, wurde er von mehreren Gewehrsalven getroffen, und landete durchlöchert in der Böschung. Die hinter dem Lenkrad zusammengesackte Fahrerin war, ebenso wie die vier anderen Insassen des Wagens tödlich
getroffen worden. Am Steuer handelte es sich um die berühmt-berüchtigte Violette Morris, und bei den anderen Mitfahrern um den Fleischermeister Bailleul aus einem Nachbardorf und seiner Familie, die – und das ist bis heute nicht geklärt – sterben mussten, weil sie als mitgenommene Passagiere zur falschen Zeit am falschen Ort waren, oder weil sie mit den Deutschen kollaborierten.

Die Leichen wurden von den Résistance-Leuten verscharrt, sämtliche Spuren des Anschlags sorgfältig beseitigt, und der Wagen in einen sumpfigen Teich geschoben. Erst ein Jahr später wurden die Leichen gefunden und ordentlich begraben, mit Ausnahme der Überreste von Violette Morris, die niemand beanspruchte. Nach monatelanger Aufbewahrung in einem Leichenhaus wurde sie schließlich in einem nicht gekennzeichneten Gemeinschaftsgrab in einem ungenannten Friedhof in der Normandie beigesetzt.

Hosen tragen gesetzlich verboten!

Emilie Paule Marie Violette Morris wurde 1893 in eine Familie hineingeboren, deren militärische Verbindungen väterlicherseits bis in die Zeit der französischen Revolution zurückreichten. Groß- und Urgroßvater waren beide Kavallerie-Generäle gewesen, ein Onkel Admiral zur See. Ihr Vater, Baron Pierre-Jacques Morris, Hauptmann der Kavallerie, musste 1888 aus Gesundheitsgründen frühzeitig in den Ruhestand.

Zusammen mit Ihrer Schwester Louise wurde Violette Morris in der von englischen Schwestern geleiteten Klosterabtei von Solières, unweit der belgischen Stadt Huy, streng katholisch erzogen. Zum Lehrplan gehörte nach gutem alten englischen Muster Körperertüchtigung, und viel Sport. Sie lernte Fußball spielen, schwimmen, Wasserpolo, Diskus, Speer- und Hammerwerfen, Boxen, Ringkampf und Tennis, Motorradfahren, Autofahren und noch andere Sportarten. Sie wurde zu einer erfolgreichen Sportlerin, und erntete in den zwanziger Jahren zahlreiche Preise und Medaillen in verschiedenen Disziplinen. Um sie nicht alle zu nennen, seien an dieser Stelle nur Ihre Goldmedaillen im Diskus-, im Hammer- und Speerwerfen erwähnt, alle während der sogenannten „Frauen-Olympiade“ von 1921 u. 1922 errungen. Frühzeitig Rebell, ohrfeigte sie einmal einen Fußball-Schiedsrichter, weil sie mit seinen Entscheidungen unzufrieden war. Die meisten ihrer Boxkämpfe fanden mit Männern als Gegner statt, und endeten meist damit, dass die Männer auf der Matte k.o. gingen.

Seit Ihrer Zeit als uniformierte Ambulanzfahrerin und Krad-Melderin im Ersten Weltkrieg trug sie durchwegs
Männerhosen, die sie deutlich praktischer als Röcke empfand, was als schockierend betrachtet, und von der Gesellschaft nicht nur als anstößig empfunden wurde, sondern gesetzlich sogar verboten war, es sei denn, man hätte eine polizeiliche Ausnahmeerlaubnis, eine „permission de travestissement“, wortwörtlich eine „Erlaubnis zum Transvestieren“ beantragt und erhalten, und die bekamen fast ausschließlich nur pferdereitende weibliche Zirkusclowns.

Ausnahmen gab es nur in den seltensten Fällen, und diese waren im Prinzip nur aus gesundheitlichen Gründen möglich, aber hinter gesundheitlichen Gründen kann sich auch so manch ein anderer Grund verbergen. Durch einen Bericht in der Zeitung „La Lanterne“ vom 9. November 1879 wurde so z.B. öffentlich bekannt, dass eine Mademoiselle Marguerite Bellanger aus Paris am 9. Januar 1861 solch eine unbegrenzte Erlaubnis zum Transvestieren, sprich sich als Mann zu kleiden, erhielt. Tatsächlich war sie die Mätresse von Napoléon III., und konnte so verkleidet jederzeit unerkannt im Tuilerien-Palast ein und ausgehen.

Da aber Violette Morris nie eine solche Erlaubnis ersucht hatte, dauerte es nicht lange, und sie wurde vom FFSF (Fédération féminine sportive de France) wegen Nichteinhaltung der Vorschriften ausgeschlossen. Sie verklagte den FFSF, also den Französischen Frauensportverband, auf Wiederaufnahme, doch wurde der Prozess zu einer Debatte über was und was nicht anstößig sei. Das Urteil lautete folgendermaßen: „Wir müssen uns nicht damit befassen, wie sich Frau Violette Morris in der Stadt und in ihren anderen Berufen kleidet, jedoch sind wir der Meinung, dass das Tragen von Hosen für Frauen nach den Gepflogenheiten nicht erlaubt ist, und die FFSF jedes Recht hatte, es zu verbieten. Dementsprechend weist das Gericht die Klage von Frau Violette Morris ab und verurteilt sie zum Tragen der Gerichtskosten.“

Das Urteil ist in gewisser Weise dennoch erstaunlich, denn in Paris experimentierte und verkaufte eine gewisse Gabrielle Chanel, genannt Coco, bereits Anfang der zwanziger Jahre in ihrem Geschäft modebewussten Frauen leichte bequeme Hosen, die, oh Schreck, auch noch aus Jersey-Stoff genäht wurden, ein Stoff der zuvor ausschließlich für Herrenunterwäsche verwendet wurde. Nun muss man sagen, dass Violette Morris sich seit einiger Zeit fast provokativ stets als Mann gekleidet hatte, und auch so vor Gericht erschien. Außerdem rauchte sie wie ein Schlot – drei Schachteln mit zwanzig Zigaretten pro Tag waren für sie nichts Ungewöhnliches. Es wird auch berichtet, dass sie wie ein Loch im Fass trank, und oft und schlimmer fluchte als ein betrunkener Seemann.

Man kann sich also gut vorstellen, dass sie gesellschaftlich, gelinde gesagt, nicht gerade beliebt war. Das mag auch einen Einfluss auf das Gerichtsurteil gehabt haben. Zudem war sie eine entschiedene Anhängerin der altgriechischen Dichterin Sappho. Infolge Ihres Ausschlusses vom FFSF hing Violette Morris ihre Boxhandschuhe und andere Sportgeräte nicht nur bildlich an den Nagel, und widmete sich nur noch dem Automobil-Rennsport zu. Sie errang mehrere Siege in der Kategorie „Voiturettes“-Kleinwagen, darunter 1927 in Fontainebleau auf „Benjamin“, und 1928 in St-Germain-en-Laye auf „BNC“ (Bollack, Nettler & Cie.) den „Bol d’Or“, die Trophäe für den Sieger des jährlichen 24-Stunden-Langstreckenrennens. Sie öffnete 1928 einen Autozubehör-Laden, musste aber binnen eines Jahres Bankrott anmelden.

Ein paar Versuche Sängerin in Cabarets zu werden, scheinen – mit Ausnahme eines einmaligen Auftritts im Radio – auch nicht gerade überzeugt zu haben. Sie zieht sich mit ihrer damaligen Partnerin, der Filmschauspielerin Yvonne de Bray, auf ein Hausboot auf der Seine, das an der „Pont de Neuilly“ in Paris verankert ist, zurück.  Durch ihre Partnerin macht sie die Bekanntschaft von Josephine Baker, dem jungen Schauspieler Jean Marais und des Dichters und Novelisten Jean Cocteau, der sie folgendermaßen beschreibt: „Es ist ein pummeliges kleines Mädchen oder ein pummeliger kleiner Junge, der sehr lustig ist, schmollt und lauter Ideen hat.“

Hitler’s Ehrengast…wirklich???

In einigen französischen Biografien wird behauptet, dass sie von Adolf Hitler persönlich als Gast bzw. als Ehrengast zu den Olympischen Spielen 1936 in Berlin eingeladen gewesen sei. Nur eine einzige kritische Stimme, die der Historikerin Marie-Josèphe Bonnet, scheint Recht zu haben: sie weist darauf hin, dass die Olympischen Spiele 1936 das meistfotografierte Ereignis des Jahres waren, und daher mindestens ein Foto von Violette Morris in Berlin, im Olympiastadion oder bei der Begrüßung durch Hitler aufgenommen worden oder irgendwo aufgetaucht sein müsste…was bis zum heutigen Tage nicht der Fall ist.

Umgehend wird Violette Morris auch der Spionage für Deutschland bezichtigt, schlimmer noch, im Krieg aktives Mitglied der „Carlingue“ gewesen zu sein, und eine sadistische Freude am Foltern von Häftlingen der französischen Gestapo in der rue Lauriston gehabt zu haben. Tatsache ist, dass diese Anschuldigungen erst nach Kriegsende in Prozessen gegen Carlingue-Mitglieder auftauchten, deren Glaubwürdigkeit in Frage gestellt wurde, zumal die Angeklagten versuchten, ihre eigene Verantwortung auf andere Mitglieder abzuwälzen, aber keinerlei konkreten Beweise für ihre Anschuldigungen vorlegen konnten.

Beispielsweise bezichtigte einer der Angeklagten Violette Morris des brutalen Verhörs eines Häftlings im Jahre 1944…nur erwies sich, dass das bewusste Verhör erst drei Monaten nach dem tödlichen Anschlag auf den von ihr gefahrenen Citroën in der Normandie stattfand. Nach ihrem Tod wäre Morris‘s Name, den sie mit Schande besudelt hätten, für einige der Carlingue-„Kollaborateure“ sehr nützlich gewesen, in der Hoffnung, ihre eigenen Untaten, wenn nicht gar ihr Gewissen, zu entlasten. Doch nirgendwo wurde Violette Morris erwähnt, weder in den Strafprozessen gegen die Bonny-Lafont-Bande der rue Lauriston, noch in den Akten der Gestapo zur Unterdrückung des Widerstands.

Sie war gewiss eine komplexe Person, die zwar ihre Sympathie für die Besatzer nicht verbarg, aber nie eindeutig und offiziell in schwere Akte der Kollaboration verwickelt erschien. Nachweislich betrieb Violette Morris auch im oder ab Februar 1941 im 17. Pariser Arrondissement, Nr. 34, Boulevard Pershing, eine von der deutschen Luftwaffe beschlagnahmte Autowerkstatt, in der Fahrzeuge der Wehrmacht gewartet wurden. Unter anderem hatte sie dort natürlich Zugang zu Benzin.

Busenfreundin von Lucy Franchi, und Dauergast im „Monocle“, ging Violette Morris jedenfalls anscheinend im Hauptquartier der französischen Gestapo in der rue Lauriston ein und aus. Letzteres allein würde schon bedeuten, dass sie in irgendeiner Funktion gute Kontakte zur „Carlingue“ gehabt haben muss, wenn auch nicht unbedingt als Mitglied. Ebenso ging sie im Dienstgebäude der deutschen Gestapo bzw. des Reichssicherheitshauptamts (Abwehr/SiPo) in der Rue des Saussaies, Nr. 11, im 8. Arrondissement von Paris (heute eine Außenstelle des französischen Innenministeriums) ein und aus. Dass sie Kontakte zur Carlingue hatte, und auf dem „braunen Markt“ tätig war, geht nicht nur aus einem Vermerk hervor, wonach ihre zahlreichen Touren zwischen Paris und der Normandie aufgefallen waren, sondern noch deutlicher aus einem Bericht des französischen Geheimdienstes BCRA (Bureau Central de Renseignements et d’Action) aus dieser Zeit: „Ende Dezember 1943 erschien Violette Morris, die wie üblich als Mann gekleidet war, an der Spitze einer deutschen Requisitionskommission (bestehend aus 6 oder 7 Personen – Offiziere und Gestapo) in der SNCASO-Fabrik in La Bocca bei Cannes. Die NCASO (abgekürzt von “Société nationale des constructions aéronautiques du Sud-Ouest“, oder allgemein „Sud-Ouest“) wurde 1936 als eines von sieben verstaatlichten Unternehmen der französischen Flugzeugindustrie gegründet.“ Morris erklärte dem Direktor M. Fandeux: „Sie haben hier 120 Tonnen Buntmetall, 30 Tonnen eisenhaltige Produkte, und 13.000 bis 15.000 Liter Benzin“. Daraufhin beschlagnahmte die anwesende deutsche Kommission und ließ sofort ¾ der Rohstoffe und die Gesamtheit des Benzins per LKW abtransportieren“.

Im Grunde genommen war sie nicht viel mehr als eine gewöhnliche opportunistische Schwarzmarkt- bzw. Braunmarkthändlerin zugunsten der Wehrmacht, deren Zusammenarbeit mit der Carlingue im Auffinden und der Beschlagnahme von gesuchten Produkten bestand, und die ihre Provision kassierte. Violette Morris, die gerne schnell und gut fuhr, offensichtlich Freude an Mechanik hatte, war anscheinend bereits im Herbst 1940 Fahrerin des der „Vichy“-Regierung nahestehenden Oberstleutnants Baron Christian Sarton du Jonchay geworden, eine Anstellung, die sie wohl dem Umstand zu verdanken hatte, dass ihre und die Du Jonchay-Familie seit der Zeit der beidseitigen Großväter befreundet waren (Alte Kavallerie-Offiziers-Kameraden…).

Dank dieser Stelle hatte sie Zugang zur in dieser Zeit äusserst seltenen und wertvollen „Fahrgenehmigung für Kraftfahrzeuge“ die es ihr ermöglichte, bei Bedarf Fahrerin des Oberstleutnants für seine Dienstreisen zu sein. In den Jahren 1943-44 war du Jonchay Vertreter von Jacques Guérard, dem Generalsekretär des Premierministers der „Vichy“-Regierung Pierre Laval, im Hotel Matignon (dem Sitz des französischen Premierministers) in Paris, und reiste in dieser Eigenschaft oft in einem Simca 8 (lizenzierte Version des Fiat 508C), der von Mademoiselle Morris gefahren wurde, zwischen Paris und Vichy hin und her. Ein weiterer Beleg für Morris‘ Tätigkeit als Fahrerin von du Jonchay findet sich in der auf dem Fahrgenehmigungsausweis vermerkten Diebstahlsanzeige des Simca 8 im März 1944.

Fabelhafte Zeiten…

Vor allem die ersten beiden Jahre der Besetzung von Paris waren eine fabelhafte Zeit, sowohl für die Angehörigen der Wehrmacht als auch für die Unterhaltungsindustrie, insbesondere natürlich für die Kabaretts, vom nobelsten, grandiosesten Etablissement bis zum verrufensten, zwielichtigsten Kaschemmen-Club. Es bleibt dem Leser überlassen, wo er „La Roulotte“ einordnen möchte. Viel wird heute daraus gemacht, dass Edith Piaf und später der Jazzgitarrist Django Reinhard dort gesungen und gespielt haben. Auch werden diese zwei Künstler so dargestellt, als hätten sie ihre Entdeckung und ihren Erfolg ausschließlich Madame Franchi zu verdanken gehabt. So wurde zum Beispiel das weltbekannte Lied „La vie en rose“ von Edith Piaf entgegen der Behauptung in einer Broschüre von 2015 über den Mercedes 540K/500K, weder während der Besatzungszeit von Paris in der  „Roulotte“ komponiert noch dort uraufgeführt. Der erste Textentwurf wurde im Oktober 1944, also mehr als 10 Wochen nach Abzug der Wehrmacht aus Paris, von Piaf mit Bleistift auf einem Stück Papierserviette geschrieben, die Musik wurde von „Louigy“ (Louis Guillaume Guglielmi) komponiert. Eine Schallplatte wurde am 9. Oktober 1946 aufgenommen, und erst 1948 wurde das Lied „live“ von Edith Piaf vorgetragen.

Als ob die Seltenheit und die Eleganz des 1936er Mercedes-Benz 540K/500K Cabriolets, der vor der Tür des Cabarets „la Roulotte“ parkt, nicht genügen würde, werden in Verkaufskatalogen die Käuferin des Wagens Lucy Franchi, und ihr Bruder Pierre in der Broschüre in die gesellschaftliche Elite befördert, und selbst ihre Tätigkeit als „Madam“ wird zu einer sozialen Hilfsorganisation hochgespielt. Alle Unterhaltungskünstler, gleich ob  Sänger(-innen), Musiker, oder Tänzerinnen traten dort auf, wo sie einen mehrtägigen oder mehrwöchigen
Vertrag – und möglicherweise auch noch ein Abendessen – bekamen. Natürlich dreht sich das Ganze nach einiger Zeit im Kreis, auch wenn Paris über hundert Cabarets zur Auswahl anbot.

Viele Künstler eilten auch am selben Tag von einem Auftritt zum nächsten. Ein Auftritt von 17.00 bis 19.00 Uhr, gefolgt von einem anderen an einem anderen Ort von 20.00 Uhr bis zur Sperrstunde waren keine Seltenheit. Unter den bekannten Künstlern, die im “Roulotte auftraten“, befindet sich das „Quintette du Hot Club de France“, eine Jazz-Gruppe, die aus einer Reihe von Backstage-Jams entstand, die der Gitarrist Django Reinhardt mit dem Geiger Stephane Grappelli im Hotel Claridge in Paris veranstaltete, wo die beiden als Mitglieder einer Band unter der Leitung des Bassisten Louis Vola spielten. Nach einer solchen Jamsession im Claridge Hotel drängten die Konzertveranstalter Pierre Nourry und Charles Delaunay (Leiter des „Hot Club de France“, einer Gesellschaft, die sich unter dem Vorsitz von Hugues Panassié der Förderung des Jazz widmete) auf die Gründung einer festen Gruppe und so entstand 1934 das „Quintette du Hot Club de France“, in dem im Laufe der Zeit auch so bekannte Jazz-Musiker wie Louis Armstrong, Duke Ellington und Coleman Hawkins zu Gast auftraten.

Entgegen dem, was oft zu lesen ist, war Jazz-Musik im besetzten Frankreich nicht verboten, unterlag jedoch
gewissen Auflagen. Zum Beispiel durfte die Musik nicht allzu afro-amerikanisch klingen. „Dunkle“, schwermütige Noten bzw. Melodien wie zu Beispiel Blues waren verpönt, die Musik sollte leicht, fröhlich bzw. „sonnig“ klingen. Hinzu kamen noch einige zusätzliche Bestimmungen, die zu spezifisch waren, um sie hier aufzuzählen. Die französischen Musiker waren gewieft genug, vorsichtshalber die amerikanischen Titel der Melodien ins Französische zu übersetzen, bevor sie sie der deutschen Zensur zur Genehmigung vorlegten. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels betrachtete den Jazz als undeutsch. Laut Autor Prof. Dr. Andy Fry (Kings College, London) war die offizielle Politik gegenüber dem Jazz im besetzten Frankreich aber eher tolerant. Während im besetzten Norden die deutsche Militärregierung und ihre Sympathisanten, um sich bei der Bevölkerung beliebt zu machen, den Jazz duldeten, solange er keine zu starke Assoziation mit seinem Ursprung auslöste, waren die offiziellen Stellen der Vichy-Regierung keine Freunde des Jazz. Für sie hatte Jazz vor allem etwas mit Alkohol, patho-logischer Sexualität, Schwarzmarkt und „allen möglichen anderen Abnormitäten zu tun“. Dies spiegelte sich auch in den verschiedenen Radiosendungen wider.

Während das von den Deutschen betriebene Radio-Paris zwischen Propagandasendungen regelmäßig die Musik französischer Jazzgruppen sendete, (Michel Warlop, André Ekyan, Django Reinhardt usw.), erklangen in dem von der Vichy-Regierung kontrollierten Radio-France überwiegend seichte Tanzmusik und klassische  Programme. Oberleutnant Dr. Dietrich Schulz-Köhn, Django Reinhardt, usw. Im Gegensatz zur „Vichy“-regierten südlichen Hälfte Frankreichs, herrschten im Norden des Landes zwischen 1940 und 1944 also trotz Besetzung günstige Bedingungen für den Jazz: „Niemals zuvor hatten französische Jazzmusiker so viel zu tun wie während der deutschen Besatzungszeit.“ Niemals wurden so viele Schallplatten eingespielt, auf denen französischer Jazz zu hören war, und niemals gab es so viele Jazzkonzerte, ja sogar – festivals, die sich in ihren Programmen ganz auf die Musik französischer Jazzmusiker konzentrierten. Trotz Mangel an den für die Herstellung notwendigen Rohstoffen war die Produktion von Jazzplatten im besetzten Frankreich enorm; allein das von Charles Delaunay gegründete Label „Swing“ brachte zwischen 1940 und 1944 rund 100 Jazzplatten heraus.

Die Platten von Django Reinhardt waren so begehrt, dass man auf dem Schwarzmarkt für eine seiner Platten 2 Kilo Butter (4 lbs 6.5 oz) zahlen musste. (James Hughes, „The Atlantic“). Dr. Dietrich Schulz-Köhn war ein Musikschriftsteller und Radiomoderator, der nach dem Krieg als „Dr. Jazz“ bekannt wurde. Er wurde am 28. Dezember 1912 in Thüringen geboren und verstarb am 7. Dezember 1999 in Erftstadt südlich von Köln. Schulz-Köhn war einer der bekanntesten deutschen Jazzexperten und Autoren seiner Zeit. In 1934 gründete er in Königsberg den ersten deutschen Jazz-Club, den „Swing-Club“. Er war auch Korrespondent für ausländische Zeitschriften wie Billboard und das schwedische „Orkester Journalen“. Er studierte Musik, Volkswirtschaft und Sprachen an den Universitäten Freiburg im Breisgau, Frankfurt am Main, Königsberg und Exeter in England. 1936 schloss er seine Ausbildung zum Diplom-Volkswirt ab, 1939 promovierte er an der Universität Königsberg zum Dr. rer. pol. über „Die Schallplatte auf dem Weltmarkt.“

Ab 1935 war Schulz-Köhn bei der DGG, der Deutschen Grammophon Gesellschaft beschäftigt. Er gab auch die Platten der Brunswick Records heraus; ab 1939 arbeitete er bei Telefunken als Jazz-Redakteur. 1938 trat er in die NSDAP ein, nachdem er schon 1933 in Magdeburg der SA beigetreten war. 1935 wurde er Mitglied des 1932 in Paris gegründeten “Hot Club de France“ (HCF), und befreundet mit dem HCF-Gründer, Jazzexperten und
Mentor Charles Delaunay, der u.a. das Musiklabel “Swing“ im Jahr 1937, und 1948 das Plattenlabel „Disques Vogue“ gründete.

So weltoffen Schulz-Köhn einerseits seit seiner Jugend durch seine Leidenschaft für den Jazz und durch seine internationalen Kontakte war, so war er andererseits durch seine unkritische Haltung gegenüber dem
nationalsozialistischen Regime und Mitgliedschaft in der NSDAP unter seinen Mitstreitern und Jazzfreunden nicht unumstritten.

Hans-Otto Jungs, ein Zeitzeuge, meinte einmal über Schulz-Köhn: „Er war der einzige in unserem kleinen Kreis von Jazzfans, der nicht wahrhaben wollte, was in Deutschland passierte. Er verhielt sich wie ein Anti-Nazi, aber wenn du mit ihm sprachst… nun, es war schizophren.“ Schulz-Köhns Kontakte zu Delaunay setzten sich auch während des Zweiten Weltkriegs fort, als er Oberleutnant der Luftwaffe war, obwohl er gewusst haben muss, dass Delaunay spätestens ab 1942 auch in der Résistance aktiv war.

Der “Hot Club de France“ veranstaltet 1942 und 1943 in Paris mehrere Jazzkonzerte im Salle Pleyel und in der École Normale de Musique. Daran nahmen alle französischen „Jazzer“ der damaligen Zeit wie Hubert Rostaing,
Alix Combelle und viele andere teil, darunter auch Musiker aus den damaligen französischen Kolonien. Im Laufe des Jahres 1943 prägten die karibischen Musiker auch zahlreiche Aufnahmesessions für die von Charles Delaunay gegründete Marke „Swing“ mit ihrer Anwesenheit. Schulz-Köhn verehrte Django Reinhard und seinen Jazz-Stil. Er ließ sich sogar in Wehrmachtsuniform mit ihm und dieser einzigen damals noch spielenden Band mit afro-amerikanischen Mitgliedern vor dem „Club Cigale“ in Paris fotografieren.

Dass diese „afro-amerikanische“ Band spielen durfte, mag sich vielleicht zum Teil auch daraus erklären, dass mit Ausnahme von Harry Cooper, der aus Louisiana stammte, quasi alle Mitglieder der Band aus Guadeloupe kamen, und insofern eigentlich nicht als Amerikaner, sondern als Franzosen gelten konnten. Harry Cooper seinerseits war zudem mit einer Elsässerin verheiratet, was für ihn als “mildernder Umstand“ betrachtet werden konnte
Dank ihrer intensiven Identifizierungsforschung gelang es Dr. Kira Dralle, Professor an der University of California, die Identität aller Personen auf dieser anscheinend im Sommer 1942 vor dem Jazz-Club „La Cigale“
gemachten Aufnahme festzustellen: ganz links steht Django Reinhardt, neben ihm Oberleutnant Dr. Dietrich Schulz-Köhn; es folgen dann die Band-Mitglieder Al Lirvat, Robert Mavounzy, Claude Martial; Harry Cooper.

Im Juni 1942 hatte Fredy Jumbo, ein Schlagzeuger aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun, die Genehmigung erhalten, in der „Brasserie de la Cigale“ am Boulevard Rochechouart in Paris sein schwarzes Orchester zu präsentieren. Es sind die Mitglieder dieses Orchesters, die auf der Aufnahme gemeinsam mit Django Reinhardt und Dr. Schulz-Köhn zu sehen sind. Ganz rechts steht Henri Battut, ein jüdischer Musiker auf der Flucht, dem Schulz-Köhn noch Lebensmittelkarten besorgt haben soll. Schulz-Köhn war an der französischen Küste stationiert, erst in Nordfrankreich, danach am Mittelmeer und zum Schluss in der Normandie. Durch seine Tätigkeit bei der Luftwaffe reiste er viel herum, er war oft in Belgien, den Niederlanden, und wenn er mal in Paris war, dann war es mehr auf der Durchreise als für einen längeren Aufenthalt, genügend Zeit jedoch um sich mit Charles Delaunay und dem Plattenproduzenten Hugues Panassié zu treffen; Django Reinhardt in dem Club, in dem er gerade spielte, zu besuchen, und bei dieser Gelegenheit gelegentlich auch mal erfreuten Jazz-fans die neueste Jazz-Platte vorzuspielen.

Neben all dem fand er die Zeit, ein Mitteilungsblatt, die „Mitteilungen“, mitzugründen, im Grunde eine verbotene Untergrundzeitung, in der er über die neuesten Jazznachrichten für seine Fans berichtete, die er auf seinen Dienstreisen nach Brüssel, Amsterdam, oder Paris aufschnappte, oder über seine Kontakte in Schweden erhielt. Diese „Mitteilungen“ wurden von März bis Oktober 1943 in Form von Rundbriefen veröffentlicht, und waren ein mit militärischer Präzision organisierter geheimer Jazz-Nachrichtendienst. Nach seiner Entlassung 1947 aus französischer Kriegsgefangenschaft wurde er in den Nachkriegsjahren als Radiomoderator „Dr. Jazz“ bekannt, zunächst ab 1948 bis 1952 beim Nordwestdeutschen Rundfunk, später beim Westdeutschen Rundfunk (WDR), wo er mehr als 20 Jazzsendungen begründete. In den Jahren 1958 bis 1961 hatte er eine Dozentenstelle für die Geschichte des Jazz an der Musikhochschule Köln, und war ab 1990 in den letzten Jahren vor seinem Tode 1999 auch Honorarprofessor an der Hochschule der Künste in Berlin und hielt dort eigene Seminare zum Thema Jazz.

Seinen Freund Django Reinhardt besuchte Schulz-Köhn 1952 in Paris, war allerdings von der elektrischen Gitarre auf der Django nun spielte, nicht arg begeistert. 1953 starb Django als Folge eines Schlaganfalls in Samois, einem kleinen Ort bei Fontainebleau.

Nach 1944,

als das politische Klima sich geändert hatte, und die Amerikaner sich ihrerseits in Paris aufhielten, kamen fast alle der französisch-karibischen Swing Jazz-Musiker wieder zusammen, und unter dem Namen „Al Lirvat and his Cigal’s Band“ spielten sie unter seiner Leitung bis Mitte der fünfziger Jahre und machten Aufnahmen von zahlreichen Swing-Erfolgsmelodien. Paralell dazu war Robert Mavounzy und seine Band, die sich als die Pioniere des karibischen Jazz bezeichneten, genauso erfolgreich: Mavounzy, der sowohl Klarinette als auch Saxophon beherrschte, nahm in den 1940er Jahren mit Django Reinhardt, Harry Cooper und dem „Ensemble Swing du Hot Club Colonial“ einige Schallplatten auf. Er starb 1974 in Paris. Fredy Jumbo blieb ebenfalls sehr aktiv und nahm mehrere „Swing“- Platten von Django Reinhardt komponierten Melodien bei Polydor mit Albert Lirvat, Robert Mawounzy, nebst anderen Jazz Musikern aus der karibisch-pariserischen Swing-Jazz Szene auf.

Jazz König Django

Seine Karriere begann Django Reinhardt als Kind in einem belgischen Roma-Lager, wo er Gitarre, Banjo und Geige spielen lernte, und bereits im Alter von 15 Jahren als Straßenmusikant, während er von Ort zu Ort reiste, sein Geld in Cafés verdiente. Sein Zigeunerwagen brannte 1928, verursacht durch eine umgestoßene Kerze, völlig aus. Seine Frau kam bei dem Brand ums Leben, er selbst erlitt schwere Verbrennungen an der linken Hand, die zum Verlust der Beweglichkeit vom Ring- und kleinem Finger der linken Hand führten.

Er hatte alles verloren, kehrte zum Straßenmusizieren zurück, und 1931 erregten er und sein Bruder Joseph auf den Straßen von Toulon an der „Côte d’Azur“ die Aufmerksamkeit des Pariser Malers und Fotografens Emile Savitry. Savitry war von ihren Fähigkeiten beeindruckt und wurde ihr Mäzen. Er half Django und seinem Bruder, sich in der Pariser Szene zu etablieren, und führte Django in das Cabaret „La Boîte à Matelots“ in der Pariser Rue Fontaine 10, in die Jazzszene ein.

Das Cabaret in der Rue Fontaine, das sich auf dem Gelände eines ehemaligen Friedhofs befand, auf dem sich verschiedene Veranstaltungsunternehmen abwechselten, wurde 1931 von Léon Volterra – Mann der Unterhaltungs-industrie, Pariser Impresario, Produzent von Shows, Leiter von Veranstaltungshallen (Théatre Marigny, Théatre de Paris, Casino de Paris, Les Folies-Bergère), Eigentümer eines Rennpferdestalls – gekauft. Er wandelte es in den Jazzclub/Cabaret, „La Boîte à Matelots“ um, in dem dann Django Reinhardt auftrat und mit seiner Musik erneut für Aufsehen sorgte.

Auch wenn die rue Fontaine nicht weit von der rue Pigalle gelegen ist, es war – wieder einmal – nicht Lucy Franchi, die Django Reinhardt entdeckte, sondern der Maler und Fotograf Emile Savitry. Dass Django in der „Roulotte“ öfters spielte, ist klar, ergab sich aber allein schon wie bereits erwähnt, durch eine Art Rotation zwischen den Künstlern und den Clubs, in denen sie auftraten.
Wenn Schulz-Köhn mal wieder in Paris zu tun hatte, dann tauchte er abends in dem Lokal auf, in dem Django gerade spielte, und das war dann auch abund zu in Madam Franchi’s „Roulotte“. Django Reinhardt war anfang der vierziger Jahre der unbestrittene König des Jazz geworden, und er lässt alle an seine Musik teilhaben, über Cabarets, Varietés, Konzerte, Radio, Schallplatten, ja, sogar einem Polizeikommissariat!

Django Reinhardt und seine Gruppe des „Quintette du Hot Club de France„ waren 1941 und 1942 regelmäßig zu Gast im Cabaret „Chez Jane Stick“ in der rue de Ponthieu im großbürgerlichen 8. Arrondissement von Paris, wo sie stets bis zur Polizeistunde spielten. Eines Abends waren sie so in ihrer Musik vertieft, dass sie die Sperrstunde
verpassten. Völlig gedankenlos hatten sie auch noch vergessen, ihre Passierscheine einzustecken. Prompt wurden sie auch von einer Polizeistreife festgenommen, und zum naheliegenden Revier gebracht, wo sie zur Übernachtung in die Zelle gesteckt wurden. Schnell wurde es langweilig, Django und seine Kollegen griffen zu ihren Instrumenten und musizierten bis zum Morgen und ihrer Entlassung. Eine Darbietung, die von den anwesenden Polizisten und anderen Häftlingen zweifellos so schnell nicht vergessen wurde!

Die von Django Reinhardt 1940 aufgenommene Melodie „Nuages“ (Wolken) wird auf dem französischen Swing-Label von Charles Delaunay im gleichen Jahr als 78-RPM-Single veröffentlicht und verkauft sich 100.000-mal. Django Reinhardt ist 1942 ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere. Er unternimmt eine Konzert-Tour nach Belgien, Holland, und nach Algiers.

Django verdient viel Geld, gibt aber auch mehr aus, als er verdient, und verspielt schon mal beim Würfeln oder beim Poker nicht nur seine, sondern – zu ihrem Unmut – auch die Gagen seiner Musiker.

Er kann sich aber auch den Luxus erlauben, ein Angebot von 80.000 Francs – eine enorme Summe – abzulehnen, weil er meint, für dieses bewusste Auftreten 120.000 Francs wert zu sein. Das war dann doch für die Deutsche Propaganda Abteilung in Paris zu teuer, deren Angebot an Django es war, 1943 in Deutschland vor französischen Kriegsgefangenen zu spielen. Als berühmter Musiker war Django bereits mehrmals gebeten worden, durch Deutschland zu touren. Jedes Mal lehnte Django ab, aber so langsam wurden die Deutschen ungeduldig. Von Natur aus seit jeher ängstlich, fürchtete Django einerseits von der Konzertreise nicht zurückzukommen, andererseits bei einem Sieg der Alliierten der Kollaboration bezichtigt zu werde. Er entschließt sich also Paris zu verlassen. Zwei Dinge beschleunigen seine Abreiseentscheidung aus der Hauptstadt: Zum einen die fast täglichen Fliegeralarme, vor denen er fast schon panische Angst hat. Seine Angst war leider nicht unbegründet: Am 3. September forderte ein alliierter Bombenangriff auf Paris und seine Vororte 86 Tote und 180 Verletzte.

Außerdem beginnt der „Service du Travail Obligatoire“ (der von gesunden französischen Männern verlangt, in Deutschland zu arbeiten), nicht nur Industriearbeiter und Handwerker, sondern auch Pariser Musiker zu treffen. Bereits am 15. Juli 1943 konnte man in der immerhin in 140,000 Exemplaren wöchentlich erscheinenden Pariser
kollaborationistischen Zeitung „La Gerbe“ folgende kurze Mitteilung lesen:

„Musiker, Achtung! Die französischen Berufsmusiker, die derzeit in Deutschland arbeiten, werden von nun  großen französischen oder deutschen Orchestern zugeteilt, die im Reich auftreten. Musiker aus Paris oder der Provinz, die für den Zwangsarbeitsdienst vorgesehen sind, sollten sich bei Herrn Verner in der Champs-Elysées 52 (4. Stock) melden, der ihnen alle notwendigen Informationen geben wird, damit sie von großen Orchestern in Deutschland engagiert werden können.“