von M. Schlenger von klassiker-runde-wetterau
Die Beschäftigung mit Vorkriegsautos anhand historischer Fotos, wie sie auf diesem Oldtimerblog betrieben wird, hat den Vorteil, dass man immer wieder Überraschendes entdecken kann. Die Literatur und die überlebenden Fahrzeuge geben nur einen Ausschnitt dessen wieder, was einst unsere Straßen bevölkerte.
Ein augenfälliges Beispiel war die Aufnahme eines Roadsters aus den 1930er Jahren, der vermutlich auf dem Mercedes-Benz 200 (W21) basierte (Bildbericht). Die Betonung liegt auf „vermutlich“, weil es in der dem Verfasser zugänglichen Literatur keine genaue Entsprechung zu dieser Ausführung gibt.
Lediglich das folgende zeitgenössische Sammelbild zeigt präzise die Linien des Zweisitzers mit dem markanten Knick in der Seitenlinie:
© Mercedes-Benz Roadster; Zigarettenbild aus Sammlung Michael Schlenger
Leider hatte kein Leser dieses Blogs eine Idee, was es mit diesem Unikum auf sich haben könnte. Eigentlich verwunderlich, da schon zu weit weniger populären Marken wertvolle Hinweise aus der Leserschaft kamen.
Aber das Hobby bringt es mit sich, dass man Geduld haben muss. Und wie im richtigen Leben gilt bei der Jagd nach interessanten alten Autofotos die Devise: „Man begegnet sich immer zweimal.“
Erstaunlich schnell aufgetaucht ist nun ein zweites Foto, das denselben Mercedes-Typ mit Roadsteraufbau zeigt wie die erste Aufnahme und das Sammelbild.
Das erschließt sich aber erst auf den zweiten Blick:
Auf dieser leider etwas körnigen Aufnahme fällt zuerst die Frontpartie ins Auge. Sie ist typisch für den ab Ende 1932 gebauten 200er Mercedes und den äußerlich ähnlichen Vorgänger Mercedes 170. Letzter ist übrigens nicht zu verwechseln mit dem späteren Vierzylindermodell 170V.
Die beiden Sechszylindertypen 170 und 200 verfügten über ein identischees Fahrwerk, das man hier besonders gut studieren kann. So sieht man zwischen den oben und unten angebrachten Querblattfedern auch die Achsschenkel, die eine unabhängige Aufhängung der Vorderräder bewirkten.
Folgt man nun mit dem Auge der seitlichen Zierleiste von der Kühlermaske nach hinten, bleibt der Blick an dem auffallenden Knick am Ende des Türausschnitts hängen, der so bei keiner Serienversion des Mercedes 200 zu finden ist.
Wir hatten im ersten Beitrag zu dem Modell bereits vermutet, dass dieser auf der Rückseite des Sammelbilds als „Sport-Roadster“ bezeichnete Wagen eine in kleinen Stückzahlen gebaute Sonderversion für den Geländeeinsatz war.
Tatsächlich sehen die vorderen Rahmenausleger und die Schutzbleche schon recht ramponiert aus, und das Reifenprofil ist stark abgenutzt. Wer nun an eine der populären Geländefahrten vor dem 2. Weltkrieg denkt, liegt dennoch falsch.
Dieser Mercedes 200 Sport-Roadster war auf einer ganz anderen Mission unterwegs, für die er an sich nicht vorgesehen war. Das sieht man aber erst, wenn man das ganze Foto betrachtet:
© Mercedes-Benz 200 Sport-Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Im Hintergrund erkennt man zwischen Kiefern weitere Fahrzeuge, und zwar LKW. Rechts stehen einige große Benzin- oder Ölbehälter. Neben dem Mercedes schrubbt ein Soldat mit Schiffchen auf dem Kopf und schweren Stiefeln an den Füßen an Werkzeug herum.
Wer’s nicht glaubt, kann sich auf dieser Ausschnittsvergrößerung selbst vergewissern:
Dass diese Aufnahme nicht bei einer Übung in Friedenszeiten entstand, verraten die deutlichen „Kampfspuren“ am Mercedes und die Tarnüberzüge an den Scheinwerfern.
Der Kiefernwald, in dem die Fahrzeuge Deckung gesucht haben, deutet auf die Zeit des deutschen Feldzugs gegen Polen 1939 oder Russland 1941 hin.
Wie war ein Exotengefährt wie unser Mercedes 200 Sport-Roadster auf solche Abwege gekommen? Genau wissen wir das nicht. Aber bekanntlich hat die Wehrmacht ihren notorischen Mangel an PKW für Stabszwecke durch Beschlagnahmung der meisten privaten Autos zu stillen versucht.
Überliefert sind auch Fälle, in denen Fahrzeugbesitzer gemeinsam mit ihren Gefährten (Auto oder Motorrad) zum Kriegsdienst eingezogen wurden. Wer an die Front musste -und das war praktisch die gesamte männliche Bevölkerung – hatte keine andere Wahl, was von heutigen „Schreibtischwiderständlern“ vergessen wird.
Die hochwertigen Wagen von Mercedes, Horch und Co. genossen besonderes Prestige und wurden von Offizieren gefahren. Für einfachere Dienstgrade blieben die zahlreichen Kübelwagentypen, womit man im Einsatz aber auch besser bedient war.
Wie weit der Mercedes 200 Sport-Roadster im 2. Weltkrieg wohl gekommen sein mag? Grundsätzlich standen die Chancen angesichts der materialmordenden Verhältnisse speziell an der Ostfront schlecht.
Mit hervorragendem Fahrwerk, robustem Kastenrahmen und niedrigem Gewicht könnte der Mercedes Roadster aber länger durchgehalten haben, als man denkt, wenn er nicht einem gegnerischen Flieger- oder Artillerieangriff zum Opfer fiel.
Sollte er irgendwo in den Weiten Russlands zurückgeblieben sein – vielleicht mit bei extremem Frost geborstenem Motor – musste selbst das noch nicht das Ende bedeuten. Nach Kriegsende lag das ganze Land voller Wracks, aus denen findige Einheimische die abenteuerlichsten Gefährte zusammenbastelten.
So mancher deutsche Luxuswagen aus einstigem Wehrmachtsbestand hat – oft mit einem Fremdmotor – auf irgendeinem Bauernhof bis in unsere Tage überlebt und steht heute restauriert in einstigem Glanz da, als hätte es keinen Krieg gegeben.
Sollte es am Ende auch noch ein Exemplar dieses schönen Mercedes 200 Sport-Roadster geben? Wer etwas in dieser Richtung beitragen möchte, kann dazu gern die Kommentarfunktion nutzen.
Mit freundlicher Genehmigung von M. Schlenger. QUELLE.