VIER gewinnt !

Rennerfolg mit Vierradbremse bei der Targa Florio 1921

  • Die innovative Technik verbessert Bremspräzision und Fahrsicherheit
  • Vor 100 Jahren: Klassensieg, schnellste Runde und Platz 2 des Gesamtklassements für Max Sailer
  • Weitere Mercedes-Benz Erfolge bei der Targa Florio 1922, 1924 und 1955
  • Überblick: Mercedes-Benz Meilensteine der Bremsentechnik im Automobil seit 100 Jahren

Targa Florio 1921. Max Sailer gewinnt mit Hans Rieger auf Mercedes 28/95 PS Sport mit Vierradbremse die Klasse der Tourenwagen über 5 Liter

Was für eine Strapaze ist dieses Rennen vor 100 Jahren. Knapp siebeneinhalb Stunden unter der stechenden Sonne Siziliens benötigt Rennfahrer Max Sailer am 29. Mai 1921 bis ins Ziel der Targa Florio. Das Ergebnis: Platz 2 im Gesamtklassement, Klassensieg der Tourenwagen über 5 Liter Hubraum und die schnellste Rundenzeit. 432 Kilometer weit liefert sich Sailer im Mercedes 28/95 PS Sport ein packendes Rennen mit einer starken Konkurrenz vor allem italienischer Fahrer. Vier Runden des 108 Kilometer langen Kurses im Norden der italienischen Insel werden über unasphaltierte Gebirgsstraßen mit rund 1.500 Kurven und 800 Metern Höhenunterschied gefahren.

Sailer kann sich unter diesen Extrembedingungen auf eine neue Technik verlassen: Der Mercedes 28/95 PS Sport ist das erste mit Vierradbremse ausgerüstete Fahrzeug der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG). Das verschafft ein deutliches Plus an Bremsvermögen und damit an Präzision und Fahrsicherheit. Zum Einsatz kommen Trommelbremsen. Diese sind hinter den Drahtspeichen gut sichtbar.

Max Sailer und Beifahrer Hans Rieger beim Empfang im Werk Untertürkheim

Der Sieg ist zum Greifen nah

Staub und Hitze begleiten das Rennen genauso wie die Gefahr von Reifenpannen durch die zahlreichen Hufnägel, die auf der Fahrbahn liegen. Und dieses Risiko kostet Sailer auch den Gesamtsieg in der zwölften Ausgabe des legendären, vom italienischen Industriellen Vincenzo Florio ausgerichteten Straßenrennens: „Sailer musste neunmal Gummi wechseln, während der mit nur zwei Minuten vor ihm angekommene absolute Sieger der Targa auf einem Spezial-Fiat-Rennwagen nicht einen einzigen Reifendefekt hatte“, resümiert die Daimler-Motoren-Gesellschaft am 6. Juni 1921 in einer Verkaufsmitteilung an das Händlernetz. Dass der Stuttgarter Rennfahrer die Targa Florio trotz dieser neun Reifenpannen in 7 Stunden, 27 Minuten und 16,2 Sekunden mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 57,9 km/h zurücklegt, ist ein Meisterstück. Wohlverdient ist denn auch seine Auszeichnung mit einem von Vincenzo Florio gestifteten und vom Sizilianischen Automobil-Club verliehenen Pokal für den „Ersten in der Serienklasse“, wie es in einem direkt nach dem Rennen an den Stammsitz der DMG gesandten Telegramm heißt. Nicht zu verwechseln ist diese „Coppa“ des Herrn Florio mit dem ebenfalls von ihm gestifteten Rennen um die „Coppa Florio“. Dieses wird 1921 im Rahmen des Grand Prix in Brescia im September ausgetragen.

Max Sailer am Steuer des Mercedes 28/95 PS Sport. Links neben dem Fahrzeug sein Beifahrer Hans Rieger.

Der Erfolg des mit der Vierradbremse ausgerüsteten Mercedes 28/95 PS Sport ist ein Beispiel dafür, wie der Rennsport einer neuen Technologie im Automobil den Weg bereitet: Ab Juni 1921 wird der 28/95 PS Sport ins reguläre Verkaufsprogramm aufgenommen. Die Erfolge bei der Targa Florio und bei weiteren Rennen sind eine starke Werbung für das Modell. So schaltet der Wiener Automobilhändler Mercedes Auto-Palast unter der Überschrift „Sieben Starts – Sieben Siege!“ eine ganzseitige Anzeige in der österreichischen „Allgemeinen Automobil-Zeitung“ vom 6. November 1921 und verkündet: „Type 28/95 PS Sechszylinder 1921 ist hier eingetroffen!“

Ab 1923 stattet die DMG auch die Serienausführung ihres damaligen sportlichen Topmodells 28/95 PS mit dieser sogenannten „Allradbremse“ aus. Mit der Zeit setzt sich die Vierradbremse weltweit im Automobilbau als Standard durch. Der Unterschied zur bislang verbreiteten, nur auf die Hinterachse wirkenden Bremse ist frappierend: So stark verzögern die mit Vierradbremse ausgestatteten Automobile, dass Mitte der 1920er-Jahre in Deutschland sogar über ein entsprechendes Warnzeichen am Heck diskutiert wird, um andere Verkehrsteilnehmer rechtzeitig zu informieren. Darüber berichtet die „Allgemeine Automobil-Zeitung“ am 12. September 1925 unter der Überschrift „Achtung Vierradbremse!“.

Sizilianisches Abenteuer

Die Targa Florio 1921 gilt als jene Ausgabe des seit 1906 ausgerichteten Straßenrennens, bei der erstmals professionelle Werksmannschaften an den Start gehen. Die DMG schickt zwei Fahrzeuge des Typs 28/95 PS Sport nach Sizilien: Max Sailer, ab 1934 übrigens technischer Direktor sowie stellvertretendes Vorstandsmitglied der damaligen Daimler-Benz AG, fährt den Wagen mit der Startnummer 25, Carlo Ferrario steuert die Nummer 24. Seine Leistungsfähigkeit hat das Fahrzeug bereits am 22. Mai 1921 bewiesen, als Otto Salzer beim Bergrennen Königsaal-Jilowischt bei Prag die beste Zeit aller Klassen erzielt und einen neuen Streckenrekord aufstellt. Doch der Start bei der Targa Florio ist noch einmal eine ganz andere Herausforderung. Das beginnt schon bei der Anreise: Max Sailer bringt seinen Rennwagen auf eigener Achse nach Sizilien – das sind mehr als 1.300 Kilometer Luftlinie und rund 2.000 Kilometer auf der Landstraße. Seinerzeit ist das im Motorsport allerdings durchaus üblich.

Mercedes 28/95 PS, zeitgenössisches Foto eines Fahrgestells.

Bei der Targa Florio feiern Mercedes und später Mercedes-Benz auch in späteren Jahren Erfolge: 1922 siegt Graf Giulio Masetti auf einem weiterentwickelten Mercedes 115 PS Grand-Prix-Rennwagen aus dem Jahr 1914, während Max Sailer die Klasse der Tourenwagen über 4,5 Liter Hubraum mit einem Mercedes 28/95 PS gewinnt – diesmal mit Kompressoraufladung versehen. Im Jahr 1924 triumphiert Christian Werner mit einem Mercedes 2-Liter-Rennwagen mit Kompressor, der als eine Art von Tarnanstrich rot lackiert wird – der typischen Farbe italienischer Wettbewerbsfahrzeuge. 1955 schließlich machen Stirling Moss und Peter Collins vor ihren Teamkollegen Juan Manuel Fangio und Karl Kling bei der Targa Florio die Sportwagen-Weltmeisterschaft dieses Jahres mit einem Doppelsieg der Mercedes-Benz 300 SLR Rennsportwagen (W 196 S) perfekt.

Seriennahe Rennfahrzeuge

Der Mercedes 28/95 PS Sport ist die Weiterentwicklung eines leistungsfähigen Luxusfahrzeugs, das die Tradition der Mercedes-Benz Kompressorwagen der S-Reihe vorwegnimmt: Paul Daimler konstruiert den Mercedes 28/95 PS vor dem Ersten Weltkrieg und stellt ihn 1914 vor. Er wird von einem 66 kW (90 PS) starken Reihensechszylindermotor mit 7.280 Kubikzentimetern Hubraum, V-förmig hängenden Ventilen und oben liegender Nockenwelle angetrieben. Bis 1915 baut die DMG rund 25 Fahrzeuge. Nach Kriegsende beginnt die Produktion erneut im Jahr 1920.

Mercedes 28/95 PS Sport mit Aufbau als Rennsportzweisitzer.

Für den Renneinsatz 1921 modifizieren die Ingenieure den Mercedes 28/95 PS so gründlich, dass er nun als eigenes Modell mit dem Zusatz „Sport“ geführt wird. Unter anderem wächst die Motorleistung auf 81 kW (110 PS), während sich der Radstand zugunsten einer verbesserten Wendigkeit um 325 Millimeter auf 3.065 Millimeter verringert. Der Kühler sitzt tiefer und weiter hinten, auch der Fahrersitz ist tiefer angeordnet. Schließlich erhält das Wettbewerbsfahrzeug erstmals bei der DMG die Vierradbremse. Vermutlich noch 1921 beginnt die Weiterentwicklung zum Mercedes 28/95 PS Sport mit Kompressormotor, der 1922 bei der Targa Florio eingesetzt wird. Mit eingeschaltetem mechanischem Lader leistet der Rennwagen nun 107 kW (145 PS) bei 2.000/min.

Der Mercedes 28/95 PS Sport gehört zur langen Tradition seriennaher Wettbewerbsfahrzeuge in der Markengeschichte von Mercedes-Benz. Zu den herausragenden Beispielen zählen die Kompressor-Tourenwagen der Typen S, SS, SSK und SSKL in den späten 1920er- und frühen 1930er-Jahren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Marke unter anderem mit dem 300 SL Coupé (W 198), mit Limousinen aus Oberklasse (W 111 und W 112) und oberer Mittelklasse (W 123) sowie den SLC-Coupés (C 107) auf der Rundstrecke und bei Rallyes erfolgreich.

Mercedes 28/95 PS Sport mit Aufbau als Zweisitzer.

Meilensteine der Bremstechnik von Mercedes-Benz

  • 1921: Vierradbremse erstmals im Mercedes 28/95 PS Sport, der ab Juni 1921 auch im regulären Verkaufsprogramm angeboten wird
  • 1931: Hydraulische Bremsanlage erstmals im Mercedes-Benz 170 (W 15)
  • 1961: Scheibenbremsen an den Vorderrädern erstmals im Mercedes-Benz 220 SE Coupé (W 111, Februar) und Mercedes-Benz 300 SL Roadster (W 198, März) mit Scheibenbremsen an Vorder- und Hinterrädern
  • 1963: Zweikreisbremsanlage erstmals serienmäßig im Mercedes-Benz 230 SL „Pagode“ (W 113, März), ab August 1963 Grundausstattung für alle Mercedes-Benz Personenwagen
  • 1970: Mercedes-Benz präsentiert das mit Teldix entwickelte Antiblockiersystem (ABS) der ersten Generation
  • 1978: Mercedes-Benz stellt das mit Bosch entwickelte ABS der zweiten Generation vor, die Serieneinführung dieser Weltneuheit erfolgt noch 1978 in der S-Klasse (Baureihe 116)
  • 1980: Antiblockiersystem ABS für alle Personenwagentypen von Mercedes-Benz verfügbar
  • 1981: Antiblockiersystem ABS für Nutzfahrzeuge vorgestellt
  • 1995: neu entwickelter Mercedes-Benz Sprinter als erster Transporter mit serienmäßigen Scheibenbremsen an Vorder- und Hinterrädern sowie ABS
  • 1996: Bremsassistent BAS vorgestellt, zunächst als Serienausstattung in S-Klasse und SL
  • 1996: neue Schwerlastwagenbaureihe Mercedes-Benz Actros mit Telligent-Bremsanlage mit elektronischer Regelung und Scheibenbremsen rundum
  • 2000: Mercedes-Benz CL 55 AMG „F1“ (C 215) als erstes Serienfahrzeug weltweit mit Keramikbremsen
  • 2005: Bremssystem ADAPTIVE BRAKE in der S-Klasse der Baureihe 221
  • 2009: PRE-SAFE Bremse kann die Folgen eines unvermeidbaren Unfalls mit einer automatischen Vollbremsung mindern