von M. Schlenger von klassiker-runde-wetterau
Die Welt dreht sich immer schneller und mehr denn je sind die Dinge im Wandel – das liest und hört man in unseren Tagen allerorten. Doch ist das abseits der stets auf Hochtouren laufenden Vermarktungsmaschinen der Industrie wirklich so?
Was hat sich im Jahr 2016 gegenüber der Zeit vor 10 Jahren wirklich grundlegend geändert? Ja, die Autos und Mobiltelefone sind größer geworden und man kann sich jetzt auch ohne Rücksicht auf Speicherplatz und Übertragungskapazität mehr oder minder belanglose Nachrichten und Bilder zuschicken.
Doch ansonsten? Nun, der Berliner Flughafen ist immer noch nicht fertig, die Infrastruktur bröckelt weiter, ganz „Europa“ ist nach wie vor eine desaströse Großbaustelle. Auch in der Bundespolitik sieht man dieselben Gesichter.
Vor 90 Jahren – im Jahr 1926 – war die Welt unserer Großeltern und Urgroßeltern wirklich in rasantem Wandel begriffen. Nach der Katastrophe des 1. Weltkriegs veränderte sich der Alltag der Menschen in einem kaum vorstellbaren Tempo.
Die 1920er Jahre markieren die Nahtstelle zwischen der untergehenden Welt des alten Europa und einer heraufdämmernden neuen Zeit, in der globale gesellschaftliche Trends und neue Technologien den Takt vorgeben.
Der Atlantik kann erstmals mit dem Flugzeug überquert werden, in den USA kann sich praktisch jedermann ein Automobil leisten, Frauen drängen selbstbewusst nach Zugang zu Bildung und politischem Einfluss, in vielen Ländern Europas bahnt sich ein gewalttätiger zwischen linken und rechten Sozialisten an.
In dieser Zeit – um genau zu sein: 1926 – entstand irgendwo im Rheinland das folgende Foto:
Foto © Benz-Limousine, aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Aufnahme dokumentiert eindrucksvoll das Nebeneinander von Gestern, Heute und Morgen. Zwei junge Männer – wohl in ihren 20ern – haben sich hier vor einem alten Benz ablichten lassen.
Der ehrwürdigen Marke aus Mannheim war zu diesem Zeitpunkt nur noch ein Jahr der Unabhängigkeit vergönnt. 1927 kam es zur Fusion mit Mercedes, fortan firmierte man als Mercedes-Benz. Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Namensbestandteil „Benz“ ganz entsorgt, eine reife Leistung geschichtsvergessener Entscheider.
Der mächtige Benz, den wir hier sehen, stammt noch aus der Blütezeit der Marke. Die genaue Datierung fällt schwer, da der Wagen Elemente von Vorkriegs- und Nachkriegsmodellen vereint:
Der markante Spitzkühler taucht – ähnlich wie bei Adler – an den Modellen von Benz kurz vor dem 1. Weltkrieg auf. Form und Abstand der Luftschlitze in der Motorhaube sprechen ebenfalls für eine Entstehung vor Kriegsausbruch.
Damals gab es ausweislich der Literatur („Benz & Cie. Zum 150. Geburtstag von Karl Benz“, Stuttgart 1994) zwei Modelle, die dem Wagen auf dem Foto entsprachen.
Ein weitgehend identisches Fahrzeug ist auf Seite 103 des erwähnten Buchs zu sehen (leider ist die korrekte Bildbeschreibung dort nach unten verrutscht). Das dort abgebildete Werksfoto zeigt einen Typ 14/30 PS mit 3,5 Liter Vierzylinder.
1914 wurde der erste Sechszylinder von Benz vorgestellt, das Modell 21/50 PS. Da der 5,3 Liter große Motor dieselben äußeren Abmessungen hatte wie die Vierzylinder, hätte er auch unter die Haube des Wagens auf dem Foto gepasst.
Das 6-Zylinder-Modell verfügte aber um einen weit größeren Radstand (3,65 m), sodass unsere Aufnahme wohl „nur“ den Vierzylinder (Radstand: 3,15 m) zeigt. Er wurde auch ab 1918 wieder gebaut.
Zwei Details an der Frontpartie verweisen ebenfalls auf die Nachkriegszeit: die elektrischen Scheinwerfer und das Horn. Sie können freilich auch nachgerüstet sein. So oder so gehörte der Benz im Jahr 1926 formal wie technisch zum alten Eisen.
Das scheint auch die beiden jungen Herren zu beschäftigen, die vor dem Wagen posieren, womöglich sind sie Chauffeure:
„Karl, lass Dir gesagt sein: unsere Tage als Fahrer sind gezählt. Meine Brötchengeberin ist seit der Inflation so gut wie pleite. Die lebt vom Verkauf des Familiensilbers und verlässt sich drauf, dass ich den ollen Benz noch eine Weile am Laufen halte. Schau‘ mal hier: Diese Anzeige habe ich aufgegeben!“
„Mensch, Hermann, ist das nicht ein bisschen dick aufgetragen? Intimer Kenner der besseren Gesellschaft sucht neues Betätigungsfeld als Gebietsvertreter für Luxuswaren. Positionen mit Dienstwagen amerikanischer Provenienz bevorzugt.“
„Du bist ja echt von gestern, Karl. Man muss nur selbstbewusst auftreten, um wahrgenommen zu werden. Wir leben nicht mehr in der Monarchie – heute kann jeder was erreichen, wenn er nur will. Und ich sag‘ Dir was: Ich will nach oben!“
„Schon klar, Hermann. Hast Dir ja auch ’nen feinen Nadelstreifenazug zugelegt. Dachte mir schon, dass Du Dich zu Höherem berufen fühlst. Wär‘ nix für mich, ich denk‘ da bodenständig. Schuster, bleib bei Deinen Leisten, sag‘ ich.“
So ähnlich könnte der Dialog zwischen den beiden Männern gewesen sein, die ihr Leben noch vor sich hatten. Wie die Sache wohl ausgegangen ist? Darüber wissen wir leider nichts. Den Benz hat es wohl als Erstes erwischt, dann kam der 2. Weltkrieg…