Aus der Clubzeitung: Das Göttinger Ei – der Schlör-Wagen

Nachdem der Wagen bereits zweimal vom Mercedes-Benz Modell-Club mit Artikeln bedacht wurde (Artikel 1 und Artikel 2) und er auch Thema einer Frage bei der Sat1 Vorabend-Quizshow „Genial daneben“ war, veröffentlichen wir hier einen Artikel aus der MVC Clubzeitung Depesche 04/2014:

von Hanspeter Bröhl

Nahezu unbekannt das sogenannte Kraftei: Die Messerschmitt Me 163 „Komet“, ein Objektschutzjäger im WK II mit Raketenantrieb der Messerschmitt AG. Bekannter dagegen das Fabergé-Ei. Allen geläufig sicher dafür das Hühnerei. Doch was ist mit dem Göttinger Ei? Ganz einfach: Vor (über) 75 Jahren eine Stromlinienkarosserie auf 170 Heck-Fahrwerk.

Schon vor 1914 gab es verschiedene Konstrukteure die sich die Stromlinie als Hobby gönnten. Alfa Romeo (Graf Ricotti) oder eine Opel-Limousine und nicht zu vergessen, das Elektro-Automobil (La jamais contante), welches als erstes Fahrzeug die 100 km/h überschritt bzw. überfuhr, anno 1898. Nach 1918 wurde die Aerodynamik mit Stromlinienformen wissenschaftlich angegangen. Die 1920er Jahre waren auch immer noch nicht reif die Kunden
damit zu beglücken. Erst in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre waren die Begüterten „In” mit einem meist Pseudo-Stromlinienwagen. Pseudo hin oder her, alles was irgendwie länglich geschwungen war bekam das Prädikat Stromlinie.

Frühe Experimentallimousine des Engländers Sir Charles Dennistoun Burney

Am Rennen um den möglichst kleinsten Luftwiderstandsbeiwert beteiligten sich u. a. Altmeister Paul Jaray, Edmund Rumpler war schon 1926 ausgeschieden, obschon sein Tropfenwagen mit Cw 0,28 den besten Wert hatte. Da waren noch Prof. Wunibald Kamm und Freiherr Reinhard Koenig-Fachsenfeld. Deren beste  Ausführungen sich mit Cw ab 0.30 bemühten dem Lufwiderstand aus dem Weg zu gehen. Alle diese Aerodynamiker befanden sich im deutschsprachigen Raum. Aber, da war doch noch einer, von dem bis jetzt noch
nicht die Rede war, von Dr. Ing. Karl Schlör von Westhoffen-Dirmstein (1911-1997). Er kam 1936 von Krauss-Maffei bei München zu der Aerodynamischen Versuchs-Anstalt Göttingen e. V. (AVA). Diese war dem Kaiser-Wilhelm-Institut Göttingen unter der Leitung von Prof. Dr. Ludwig Prantl (1875-1953) integriert. Dort wurde bereits durch Dipl.-Ing. A. Lange an einem Stromlinienmodell geforscht und gezeichnet. Dieses Design entsprach etwa der Jaray-Form mit auslaufendem Heck, in verbesserter Darstellung. Im Modell-Windkanal des Institutes wurde ein sagenhafter Cw von 0,14 gemessen, allerdings mit Abdeckung aller 4 Räder. Wenn man das Windkanal-Modell betrachtet, so entspricht dieses noch nicht der Wirklichkeit, um einen genaueren Cw-Wert zu ermitteln. In dieser Zeit, ohne dass das Projekt zu Ende geführt werden konnte, schied Lange aus seinem beruflichen Arbeitsplatz aus. Dr. Ing. Karl Schlör übernahm diese Tätigkeit.

Mit seinem Mitarbeiter Hans Becker wollten sie die Arbeiten von Ing. Lange nicht fortführen, sondern  entschieden sich für eine Einvolumen-Karosserie. Die Grundform zeigte ein Tragflächenschnitt. Modellwindkanal-Messungen ergaben angeblich einen Luftwiderstandsbeiwert von bescheidenen Cw 0,113. Die Verantwortlichen fanden dieses Ergebnis so gut, dass entschieden wurde, den Wagen zu bauen.

Als Fahrgestell wurde ein Mercedes 170 Heck durch Karl Schlör ausgelesen. Es wurde noch einiges geändert, wie Mittellenkung und entsprechend die Pedalerie dazu. Das Windkanalmodell wurde auf der IAA 1938 in Berlin ausgestellt. Ein Jahr danach sahen die Besucher den fertigen Wagen, welcher in der Zwischenzeit bei den Gebrüder Ludewig in Essen karossiert worden war. Die Karosseriefirma Ludewig hatte schon einige Erfahrungen mit Stromlinienaufbauten, vor allem mit Bussen auf Opel-Blitz Fahrgestellen. Im 1:1-Windkanal in der AVA brachte der Cw 0,189, die beste Messung Cw 0,186, eine absolute Sensation.

1939 im Göttinger Windkanal: Fädchen zum Sichtbarmachen der Strömung

Windkanal-Modell

Was dazu verhalf war der abgedeckte, geschlossene Boden, die Fenster welche mit der Aluaußenhaut bündig waren und nicht, wie damals üblich vier bis sechs Zentimeter weiter davon entfernt. Für Frischluft im Inneren konnten die vorderen und die hinteren Fenster mit je einem Ziehbeschlag von oben nach innen gezogen werden, und in der Front wurde eine Klappe eingebaut. Wobei die beiden Ziehbeschläge nicht der Sicherheit der fahrenden dienten, man konnte sich bei einer Vollbremsung oder bei einem Unfall zusätzlich noch den Kopf heftig anstoßen. Trotz der Alu-Karosserie war der Wagen etwa 250 kg schwerer als die Serien-Limousine. Die AVA hatte den ersten 1:1-Windkanal Mitte des Jahres 1938 erhalten, also noch bevor das Forschungsinstitut für Kraftfahrwesen Stuttgart (FKFS) unter der Leitung von Prof. W. Kamm ihren 1:1-Windkanal hatten.

Unterbau vom 170H

Der Schlör-Wagen, wie er von nun an genannt wurde, hatte einen Radstand von 2.60 m, 4.33 m Länge, die Höhe betrug bei einer Bodenfreiheit von 20 cm nur 1.48 m an der höchsten Stelle. In der Breite schlug er  wahrscheinlich alles was es damals gab auf den Strassen, mit 2.10 m. Diese Breite kam daher, weil die Vorderräder innerhalb der Karosserie drehten, die Hinterräder waren abgedeckt. Daimler-Benz hatte mit ihren beiden  Heckmotor-Varianten, den Typen 130 und 170 H, ihre Kundschaft nicht gerade beglückt, sodass keine großen Verkaufszahlen resultierten. Beim 170 H waren dies von 1935 bis1939 ganze 1.507 Exemplare. Ob das Schlör-Fahrgestell dabei war?

Die Reihen-4-Zylinder längs hinter der Hinterachse waren in schnellen Kurven, wobei schnell ca. 70 km/h waren,
schlecht aus der Kurve zu steuern und erst noch auf der Straße zu bleiben. Der 170 H leistete bei 3.200 U/Min. 38
PS. Das Gewicht des Fahrgestelles brachte 650 kg auf die Waage, mit der Limousinen-Karosserie ganze 1.100 kg.
Wie gesagt, der Schlör-Wagen in Aluminium brachte noch zusätzliche 250 kg. Also rund 1.350 kg Leergewicht. Die Höchstgeschwindigkeit betrug beim Serienwagen cirka 105 km/h, beim Stromlinienwagen lockere 134-136 km/h. Beim Verbrauch wurden auf 100 km acht Liter und 10-12 Liter zu Gunsten des aerodynamischen Fahrzeuges ermittelt.

Schlör-Wagen 1939

Nun, nachdem die Tests abgeschlossen waren, wurde der Wagen in eine Ecke gestellt und ein Tuch darüber gelegt, weil die Kraftfahrtforschung am Institut kriegsbedingt aufgegeben wurde. Es folgten nun die Jahre 1939 bis 1945. Auch Schlör „durfte“ Militärdienst absolvieren, allerdings seinen beruflichen Fähigkeiten entsprechend. Er wurde mit seinem Freund und Mitarbeiter Hans Becker nach Riga entsandt. Beim LKW-Werk von Mercedes einquartiert wurden Propellerschlitten aus Beuteteilen zusammengebaut.

So wurde auch einmal zu Beginn dieser Aktion, ein fünfzylindriger M11-Sternmotor mit einer Leistung von etwa 130 PS, eine Konstruktion der Russen, als Beuteteil beansprucht. Darauf hin schlug jemand vor, man könnte den eingemotteten Schlör-Wagen damit bestücken und testen, ja vielleicht sogar in Russland einsetzen. Gesagt und getan, der Motor wurde nach Göttingen mit der Bahn transportiert. Der Schlör-Wagen wurde entmottet, der Mercedes-Motor amputiert und dafür der Russenmotor mit Propeller hinten drauf montiert. Das klappte sogar und auch noch bestens. Nach den Standschubversuchen wurden nun die Geschwindigkeitsverhältnisse auf der Autobahn festgestellt.

Propellerversion

Dr. Ing. Karl Schlör von Westhoffen-Dirmstein in seiner Veröffentlichung „Der deutsche Motor- Schlitten/Seite 19
und 20, herausgegeben in: Deutsche Forschungsanstalt für Luft und Raumfahrt e.V. 1992”: „Dazu musste man aber aus der Versuchsanstalt herausfahren und die Stadt (Göttingen) und ihre engen Straßen passieren, um endlich die Auffahrt zur Autobahn zu erreichen. Ein sowieso andersartig gestalteter Personenwagen, wie er es nun einmal war und dazu noch ein donnernder Flugmotor mit Propeller hintendran, konnte nur mit polizeilicher Extragenehmigung diese Fahrt antreten. Und dabei geschah es. Bis zur Groner Landstraße konnte man durchfahren. Dort an der Kreuzung stand, wie üblich ein Polizist, der – wie konnte es anders sein –zunächst einmal den Wagen anhielt. Also die Pulle raus und den Motor im Leerlauf rumpsen lassen, rumpeldirumpeldirumpel. Mittlerweile füllten sich die Bürgersteige mit Jung und Alt und Männlein und Weiblein und als alle da waren, hob der Polizist seinen Arm und gab die Fahrt frei. Ja – also – die Pulle rein und dröhnend und fauchend blies der Propeller – ein riesen Gebläse in der engen Straße – wie ein Orkan und die Hüte flogen, die Röcke hoben sich und die gaffende Menschheit stand bloss und frei solange, bis der Spuk vorbei war. Das Göttinger Tagblatt hatte für den nächsten Tag seine Sensation und das trug – wieder einmal – zum Ruhm des Kaiser-Wilhelm-Institut und der Aerodynamischen Versuchsanstalt in Göttingen in populärster Weise bei. Auf der Autobahn Göttingen-Kassel mit längeren Steigungs- und Gefällstrecken wurde mit Propellerantrieb durch den Wagen eine Geschwindigkeit von 180 km/h erzielt, die zugleich das maximal Zulässige für die Fahrzeugkonstruktion bedeutete. Die Aerodynamik trug hier nichts mehr dazu bei, es war die reine Kraft welche den Wagen vorwärts trieb. Ob dabei der Verbrauch ermittelt wurde, möglich ist aber nicht mehr überliefert (oder?). Das Versuchsfahrzeug war schließlich kein Rennwagen.”

Dieser Versuchswagen mit Propellerantrieb wurde nach verschiedenen Debatten bei den zuständigen Herren
nicht in Russland eingesetzt, sondern gelangte nach dem finnischen Rovaniemi, als Propellerdruck-Prüfstand. Wie
und wann der Wagen wieder zurück nach Deutschland kam wurde nicht beschrieben. Nach Kriegsende ging Schlör zum bayrischen Staatsministerium nach München. Hier war er zuständig für die Kfz-Industrie und Reifen-Importe der Alliierten. Er machte auch den Vorschlag Vorkriegs-Fahrgestelle von DKW mit seiner Karosserie zu versehen. Es gab zwar schon in den 1930er Jahren einen Stromlinien- DKW mit Heckmotor, aber nur als Einzelstück. Die DKW-Geschichte ging nicht weiter, leider, oder es ist heute schlecht vorstellbar ein DKW mit einem 600 ccm 2-Taktmotor und ein Leergewicht von 1.350 kg sich herumschleppend und Fahrgäste und Gepäck und damit später (nach 1948) über den Gotthard nach Italien in die Ferien zu fahren. Die englischen Besatzer hatten das Kaiser-Wilhelm- Institut und damit auch die AVA aufgelöst. Heute heißt das Institut Deutsche
Forschungsanstalt für Luft- und Raumfahrt e. V.

Der Schlör-Wagen wurde beschlagnahmt und nicht wieder herausgegeben. Angeblich wurde er nach England gebracht. Dort steht er möglicherweise noch heute in einem Verlies. Dr. Karl Schlör traf man später wieder für kurze Zeit bei Krauss Maffei in München. Zwei Mal hat er sich mit Stromlinien-Projekten befasst, eine undatierte Zeichnung von einem Sportcoupé mit Propellerantrieb. Ebenfalls nicht umgesetzt wurde die Schnittzeichnung vom 28. Mai 1949, sie blieb auf dem Papier, wie so manches. Später ging er zu Teves, dem Bremsen-Spezialisten, wo er mit dem bekannten Physiker Fritz Ostwald zusammenarbeitete. Beide waren sehr interessiert an dem neu herausgebrachten Motor von Felix Wankel. Geschäftlich und beruflich wurde jedoch nichts daraus.

1983 setzte sich Schlör nochmals ans Zeichenbrett und brachte einen neuen Wagen auf’s Papier für seine Techno-
Transfer GmbH. Die deutschen Autohersteller hatten überhaupt kein Interesse daran. 1991 wurde das nächste
Windkanal-Modell in Sindelfingen im kleinen Windkanal von Mercedes-Benz getestet, was angeblich ebenfalls einen Luftwiderstand von Cw 0,19 ergab. Aber das Ergebnis war am glatten Modell gemessen. Das waren dann seine Lebensaufgaben gewesen. 1997 ist Dr. Ing. Karl Schlör verstorben.

Fotos Karl Schlör, AVA-Archiv, Daimler AG