Aus der Clubzeitung: Interview zur Fahrschule bei der DMG

Ein Artikel aus der MVC-Depesche 2/2015 (Clubzeitung des Mercedes-Benz Veteranen Club von Deutschland e.V.). Sollte Ihr Oldtimer-, Klassiker- und/oder Youngtimer-Club auch Interesse an der Weitergabe eines Artikels aus Ihrer Clubzeitung haben? Mailen Sie uns die entsprechenden Unterlagen mit der Freigabe für die Veröffentlichung im OldtimerTicker bitte an Info@MVConline.de .


Im Oktober 1957 führte Dr. Schildberger ein Interview mit Alfred Vischer, das als Tonaufnahme gespeichert wurde. „S“ steht für die Frage von Dr. Schildberger, „V“ für die entsprechende Antwort von Vischer. Quelle Daimler Classic Archiv.

S: Herr Vischer, zur Frage der Fahrschule, worüber wir uns ja schon unterhalten haben, möchten Sie uns vielleicht
noch einiges sagen.

V: Wenn ich nur ein paar Worte sagen darf über die Gründung der Fahrschule, die auf Anlass des Herrn Direktor
Adolf Daimler (Anm. d. Redaktion: Sohn von Gottlieb Daimler sowie Direktor und Mitinhaber der Daimler-Motoren-Gesellschaft DMG) 1908 erfolgte, weil die reichen Amerikaner, wenn sie Wagen kauften, die Monteure weg engagierten, so dass wir dadurch unsere besten Monteure verloren.

Dies hat Herr Adolf Daimler schon früher mit Missfallen bemerkt. Als aber auch die reichen Herren in Stuttgart Wagen kauften und Chauffeure aus unseren Monteurreihen wollten, da sagte er sich, das machen wir doch viel einfacher, die sollen ihre Gärtner oder Diener herschicken, die bilden wir als Fahrer aus. Er sagte zu mir: „Wir gründen eine Fahrschule. Nehmen Sie den Fahrmeister Bott und einen Wagen, dann werden wir schon sehen,, wie Sie die Sache in die Reihe bringen.“

Ich ging also zu Bott, einem biederen Schwaben, der sich natürlich gleich fragte: „Ja, Herr Vischer, muss das sein?“ Ich sagte dann: „Bott, das muss sein. Der Herr Adolf Daimler (wir nannten ihn im Betrieb immer A.D.), der Herr A.D. hat es gesagt.“ Darauf sagte Bott: Ja, da werden wir es schon machen müssen.“ Nun ging also die Sache los.

Die Leute – Diener und Gärtner – kamen und wurden in die Fahrschule aufgenommen. Bott musste jeden Abend um fünf Uhr nach Betriebsschluss zu mir ins Büro kommen und erzählen, was los war. Das ging so einige Wochen, bis er einmal mit einem Schüler besonders zu tun hatte, über den er sich sehr aufregte, und von welchem er meinte „der lernt es nie“.

Ich sagte: „Ja Bott, den müssen Sie schon so weit bringen, wir können ihn nicht zurück schicken, das würde Verärgerung bringen.“ Ein paar Tage drauf am Abend kam Bott mit hängenden Mundwinkeln zu mir. Ich merkte sofort, dass etwas passiert war und fragte: „Na Bott, was ist los?“. Antwort: „Ha, ganz hin ist er net“. Ich sagte: „Was Bott, der Wagen?“. 

Bott: „Ha noi, der Mann. Wir waren in Hedelfingen und da saß gerade der unbrauchbare Fahrschüler am Steuer. Ich sage zu ihm: Sieh’sch net, den Mann, hup doch! Der Fahrschüler hupt, der Mann läuft nach links, der Fahrschüler fährt auch nach links. Dann läuft der Mann nach rechts, mein Fahrschüler fährt auch nach rechts, und auf einmal hat er den Kühler auf dem Hintern gehabt.“ Der Mann lag dann sechs Wochen im Spital und Interview zur Fahrschule bei der DMG Bott war den Fahrschüler los. Bott hat dann weiter ausgebildet.

Als 1911 die Flugmotorenproduktion anfing und die Heereslieferungen begannen, da wurden Leutnants, die sich zu der Fliegerei gemeldet hatten, nach Untertürkheim kommandiert, um Motorenkunde zu erlernen. Die ersten waren ein Leutnant von Thuens, der nach dem Krieg bei uns Verkaufsleiter wurde, und ein Leutnant Carganiko sowie ein Leutnant Mackenthum. Die Herren bekamen einen Motor, den mussten sie unter Aufsicht auseinander nehmen und wieder zusammenbauen und auf dem Prüfstand ausprobieren. Damit wurden die Vormittage
ausgefüllt. Nachmittags kam die Fahrschule dran.

Die Herren konnten alle nicht Auto fahren, hatten aber ein großes Interesse dafür. Sie lernten bei Bott  Autofahren, und es wurde ein großer Betrieb daraus. Es kamen immer mehr Offiziere zur Ausbildung und der Bott wurde ein weit bekannter Mann.

Der so genannte Cardan-Wagen vom Mercedes 22/50 PS, hier als Limousine aus dem Jahre 1912.

S: Das ist ja interessant. Wie nannte sich die Einrichtung offiziell? Fahrschule?

V: Ja, Fahrschule. Und der Meister Bott war noch die folgenden Jahre da und hat noch viele Leute vom Heer ausgebildet.

S: Ja, nun bei der Ausbildung, bei den Flugmotoren, da steht es ja klar, das ist die Zeit von 1914 gewesen, aber …

V: Nein, schon vorher, etwa 1911 begann die Militärfliegerei.

S: So, schon vorher; und mit der Fahrausbildung, wann fing das dann an?

V: Zugleich, als die ersten Offiziere kamen, die drei, die ich vorhin nannte, die habe ich dem Bott übergeben.

S: Aber die Fahrschule, das sollte doch dem Namen nach eine Schulung sein für das Fahren mit Fahrzeugen. So war es doch gedacht, nicht?

V: Ja.

S: Da fingen Sie also auch mit der Fahrschule ungefähr um die gleiche Zeit wie mit der Motorenschulung an?

V: Das ging miteinander, vormittags Motor, nachmittags fahren.

S: Der Meister Bott war also der Praktiker gewesen?

V: Ja und bei der offiziellen Fahrprüfung, da war ich immer dabei.

S: Das war also noch eine strenge Schulung. Ich unterhielt mich einmal mit dem Landesbaurat Kienle. Kannten Sie ihn nicht? Er stammte aus Württemberg. Das war nach dem Krieg, als ich selbst studierte, es muss 1924/25 gewesen sein, denn da fing ich an. Da erzählte mir der Landesbaurat Kienle, ein Automobilist müsse alles perfekt wissen, worauf ich ihm erwidert habe, er müsste meines Erachtens die Verkehrsvorschriften genauestens wissen, aber das andere sollte man den Reparaturaktivitäten überlassen, denn so genau könne kein Mensch wissen, dass er alles selber machen kann. Der Landesbaurat Kienle war damals sehr erbost, aber ich freue mich, dass die Entwicklung der Automobiltechnik keinen solchen Weg genommen hat, dass eben tatsächlich der Automobilist
sich nicht mehr darum kümmert. Je besser er sich natürlich darum kümmert, umso besser ist es für sein Auto.
Das andere machen ja heute die Kundendienste.

V: Ja, das gab es 1908 noch nicht. Das ist mir sehr interessant, die Sache mit Landesbaurat Kienle kannte ich
nicht. Meine Bestallung als Sachverständiger für Automobile erhielt ich 1908. Da wurde ich und ein Ingenieur Merkle bestellt für Abnahme von Führerprüfungen. , Typenprüfungen und Begutachtung von Automobilen. Erst 1910 kam ein Herr Baurat Klaiber von der Stadtdirektion, der wurde von Herrn Adolf Daimler zu mir geführt, um ihn über die seitherige Tätigkeit als Sachverständiger zu unterrichten. Herr Klaiber sollte der amtliche Sachverständige für Automobile werden. Er hatte nicht viele Kenntnisse von Automobilrennen und er frug mich
gleich: „Herr Vischer, jetzt zeigen Sie mir mal, was vorne und hinten ist am Auto“. Daraufhin hat er mir meinen ersten amtlichen Führschein ausgestellt im Jahre 1910. Wir haben uns noch viel über Führer und Typenprüfungen
unterhalten und dann hat alles die Behörde in die Hand genommen.

S: Herr Vischer, ich glaube, nun haben wir den ersten Teil unserer Bemühungen abgeschlossen. Das war schon sehr ergiebig. Ich hoffe, dass der zweite Teil bald folgt und wir uns dann noch weiter unterhalten können. Herzlichen Dank.

V: Auch ich bin Ihnen sehr dankbar für das Interesse, das Sie meinen kleinen Erinnerungen erwiesen haben.

>>Ende des Aufnahme<<


Alfred Vischer

Alfred Vischer wird am 14. Juni 1876 in Augsburg geboren. Das Abitur legt er 1897 an der Oberrealschule in Cannstatt ab, nur einen Steinwurf entfernt vom Konstruktionsbüro Wilhelm Maybachs, dem damaligen technischen Kopf der Daimler-Motoren-Gesellschaft (DMG). Schon während des Hochschulstudiums arbeitet Vischer in den Jahren 1899 bis 1902 im Konstruktionsbüro, und noch vor dem Diplomingenieur-Examen, das er 1909 ablegt, tritt er bereits 1904 als Konstrukteur in die DMG ein. 1913 erhält er Prokura. An der Entwicklung des Grand-Prix-Rennwagens und an der Organisation des Renneinsatzes von 1914 ist er maßgeblich beteiligt. In Lyon ist er mit dem Reservewagen (Startnummer 41) vor Ort, den er selbst auf Achse überführt hat. 1919 wird Vischer
Betriebsdirektor im DMG-Werk Berlin-Marienfelde. Nach der Gründung der Daimler-Benz AG übernimmt er 1926 die Betriebsleitung der Niederlassung „Am Salzufer” in Berlin. Nach zahlreichen leitenden Funktionen im Servicebereich geht Vischer 1945 in Pension. Er stirbt am 8. April 1960 in Krefeld.