Aus der Clubzeitung: 770 Offener Tourenwagen

von Jörg Enger 
mit freundlicher Unterstützung des Auto- und Technik-Museum Sinsheim 
aus der MVC Depesche 04/2011

Manche Themen und Fahrzeuge sind besonders schwierig. Einige, weil man zu wenig Informationen hat. Andere, weil man nicht genau weiß, was aus der Informationsfülle weggelassen werden darf.
Bei dem Fahrzeug, das wir diesmal beleuchten wollen, kommt noch eine weitere Komponente hinzu: Die unrühmlich Geschichte – nicht des Fahrzeugs an sich, sondern die, die sich in der Zeit ereignet hat.
Lange habe ich überlegt, wie ich diesen Artikel schreibe, ohne in den Verdacht der Verherrlichung zu geraten. Irgendwann habe ich beschlossen, dass „Verschweigen“ auch eine Art „Geschichtsfälschung“ ist …

Big is beautiful

Luxusmarken, und Mercedes-Benz gehörte zweifelsohne immer schon dazu, brauchen auch neben Sportwagen und deren Erfolge auch Repräsentationsfahrzeuge. Eines war schon in den späten 1920er Jahren der Typ Nürburg. Wer allerdings glaubte, damit sei das Ende der Fahnenstange erreicht gewesen, der musste sich eines besseren belehren lassen. In Sachen Luxus, Größe, Komfort und Kraft setzte der 770 W07 neue Maßstäbe. Vorgestellt in Paris im Herbst 1930 war er die Krone der Schöpfung. Doch im Hintergrund setzten die Entwickler und Konstrukteure alles daran, diese noch weiter zu verbessern.

Schon im Februar 1938 wurde auf der IAMA in Berlin die Evolutionsstufe des Großen Mercedes gezeigt, intern W150 genannt. In weiten Teilen neu konstruiert, manifestierte sich im unverändert Mercedes-Benz 770 genannten Wagen vollendete Automobilbaukunst, die schöpferische Leistung seiner Ingenieure und unvergleichliche konstruktive Avantgarde von Daimler-Benz.

Das Triebwerk war von den grundlegenden Dimensionen her unverändert, wies jedoch eine Reihe von  Modifikationen auf, dokumentiert durch den neuen Motorcode M 150. Das Kurbelgehäuse bestand nunmehr vollständig aus Leichtmetall, die Auslassventile waren natriumgekühlt, die Zündverstellung vollzog sich automatisch, die Wasserpumpe wurde starr von der Ölpumpenwelle betrieben. Drei Zahnradölpumpen stellten sehr wirkungsvoll die Druckschmierung sicher.

Auch für exquisites Motorfinish war gesorgt. Zylinderblock und Aggregategehäuse präsentierten sich schwarz emailliert, Messingleitungen und Ventilator verchromt, Leichtmetallelemente in Hammerschlageffekt poliert. War der Kompressor beim Vorgängertyp W07 noch aufpreispflichtig, wurde er beim neuen W150 nunmehr  serienmäßig verbaut und hatte dazu einen höheren Wirkungsgrad und wurde wie üblich mit dem Gaspedal zugeschaltet. Im Saugbetrieb leistete der Motor mit der 6,1:1-Verdichtung jetzt 155 PS, mit Kompressor 230 PS. Die entsprechenden Drehmomentwerte stiegen auf 47 mkg bei 1900 und 56 mkg bei 2000 U/min. und die Spitzengeschwindigkeit betrug 170 km/h.

Das vollsynchronisierte Vierganggetriebe wurde durch einen im Differentialgehäuse installierten Ferngang ergänzt, der in allen Gangstufen zugeschaltet werden konnte. Weil in der Bedienung unbequem und von der Leistung her auch nicht nötig, löste 1939 diese Anordnung ein Fünfganggetriebe ab, dessen fünfter Gang als Schnellgang fungierte. Kraftübertragung durch eine verstärkte Einscheiben-Trockenkupplung.

Für besondere Einsatzzwecke gab es einen Motor mit einer Verdichtung von 7,2:1, zwei Doppelsteigstrom-Vergasern und zwei Kompressoren. Die Leistungsausbeute: 160 PS im Saugbetrieb, mit zugeschalteten Kompressoren 400 PS, bei jeweils 3600 U/min. Die Höchstgeschwindigkeit lag zwischen 180 und 200 km/h. Von dieser Variante gab es jedoch nur fünf Exemplare.

Absolut neu waren Rahmen und Achsen, die Bremsen noch zupackender. Die Chassis-Längsträger aus Ovalrohr wurden mit sechs zylindrischen Quertraversen zu einem sehr verwindungssteifen Leiterrahmen gefügt. Diese Technik stammte aus dem Rennwagenbau jener Jahre und hatte sich dort bestens bewährt.

Die nunmehr einzeln schraubengefederten Vorderräder wurden an im Parallelogramm angeordneten Dreiecklenkern geführt. Die eigentliche Überraschung bildete die Hinterachse, eine nach dem De-Dion-Prinzip konstruierte „Doppelgelenkachse“, wie sie die Fachliteratur bezeichnete. Daimler-Benz nannte sie nach dem ihr eigenen Terminus „seitenstabile Parallelradachse“. Sie war sturz- und spurkonstant, ergänzt durch ein V-förmiges Stabilisierungsgestänge, das mit einer Gelenkscheibe am mittleren Querrohr verbundenen war. An der vorletzten Traverse hing das in drei Punkten gummigelagerte Differential. Natürlich auch hier Schraubenfedern und ab 1939 sogar ineinanderliegende Doppel-Schraubenfedern.

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Die schon sehr leistungsfähigen Bremsen des ersten 770 wurden der gestiegenen Leistung und dem bis zu 900 Kilogramm höheren Gewicht des Nachfolgers angepasst, jetzt hydraulisch betätigt und weiterhin saugluftunterstützt. Jedes Rad wies zwei Bremszylinder auf, die je eine der selbstnachstellenden, auflaufenden Bremsbacken bedienten. Die neuen Stahlblech-Scheibenräder hatten Zentralverschluss.

Der evolutionäre 770 streckte sich um ganze 40 Zentimeter auf sechs Meter Länge, sein Radstand maß stolze 3880 Millimeter, und auch die Breite wuchs um 23 Zentimeter auf respektable zwei Meter sieben. Die Höhe hingegen nahm der Mode folgend um drei Zentimeter ab. Hüte und Mützen waren eben niedriger als die bislang üblichen Zylinder. Der gepfeilte Kühler stand nun leicht geneigt. Als Serienkarosserien standen Pullman-Limousine mit Trennscheibe, offener Tourenwagen, Cabriolet D und F im Angebot. Sonderwünsche wurden nach wie vor berücksichtigt, und alle Varianten konnten auch in gepanzerter Ausführung geliefert werden. Dann hieß das Baumuster W 150 II und wog bis zu 4800 Kilogramm, die Geschwindigkeit war mit Rücksicht auf die beschusssicheren Zellenreifen auf 80 km/h beschränkt.

Insgesamt 88 Fahrzeuge des W 150 verließen bis Mitte 1943 die Sindelfinger Werkhallen. Sie taten ihren Dienst teilweise bis in die späten 60er Jahre und stehen heute in etlichen erhaltenen Exemplaren in Museen und Privatsammlungen.

Der Große Mercedes war, vor allem im Kingsize-Format seiner Evolutionsstufe, durch seine technische Avantgarde richtungweisend und bestimmt bis heute die Ausprägung, Sicherheit, Komfort, Leistung und Eleganz besonders repräsentativer Limousinen. Er trug zu seiner Zeit entscheidend dazu bei, das Image der Marke Mercedes-Benz in aller Welt weiter zu festigen.

In Fahrt

All dies Fakten können aber den Charakter dieses Riesen nicht beschreiben. Ich bin daher sehr froh, dass ich durch Hermann Layher vom Automuseum Sinsheim die Möglichkeit hatte, diesen Koloss selber zu fahren. Mit gehörigem Respekt näherte ich mich diesem Wagen und die Dimensionen, die von außen schon sehr groß erscheinen, sind von innen gesehen unfassbar. So hatte es auch einer geraumen Zeit bedurft, bis ich ungefähr abschätzen konnte, wo der Wagen tatsächlich aufhört.

Dabei ist es ein erhebendes Gefühl wenn man merkt, wie gutmütig und verhältnismäßig leichtfüßig dieser Große
Mercedes sich bewegen lässt. Währen der Drehzahlmesser fast nicht in den roten Bereich von rund 3000 Upm zu
bekommen ist (das ist das, wo heutige Motoren erstmal drehfreudig werden), pumpt das eigene Herz ungefähr
genauso schnell. Dabei blubbert der voluminöse Achtzylinder gar nicht so, wie man es erwarten könnte. Selbst wenn man bei flotterer Fahrt und nach ausgiebigem Warmfahren irgendwann den Kompressor zuschaltet, setzt nicht das von anderen Modellen bekannte Kreischen ein. Wie bei allen Kompressorfahrzeugen weist die Bedienungsanleitung darauf hin, dass der Kompressorbetrieb möglichst nicht länger als eine Minute gehalten wird, da sich das sonst nicht nur auf den Kraftstoffverbrauch, sondern auch auf die Lebensdauer des Triebwerkes auswirkt. Andererseits, braucht man das auch nicht.

Auch bei diesem Motor gilt der alte Spruch der Volumenfans: Hubraum ist durch nichts zu ersetzen außer — durch noch mehr Hubraum. Der rund dreieinhalb Tonnen schwere Wagen geht behände vorwärts und lässt sich auch nicht so schnell von seinem Weg abbringen. „Länge läuft“ bekanntlich und daher verwundert es nicht, dass der 770 kein wirklicher Kurvenmeister ist. Trotzdem lässt er sich auf normalen Land– und Dorfstraßen gemütlich durch die Gegend zirkeln. Alles Dinge, die man solch einem „Fast-Lkw“ nicht zugetraut hätte. Dabei ist das
komplette Auto (abgesehen vom Luftzug) unglaublich leise. Kein Knarren oder Knattern, kein Quietschen oder Knartzen stören den Fahrspaß. Die unglaublich solide Verarbeitung und natürlich das Gewicht sind die Garanten für diese Ruhe. Das konnte man bei dem Preis damals schließlich auch erwarten.

Die Zeit

Nun kann und will ich nicht verheimlichen, dass viele (um nicht zu sagen fast alle) der nur 88 Exemplare der 770
W150 Modelle eine politisch bewegte Vergangenheit haben. Dieser Tourer mit der Fahrgestellnummer 150006/0009 wurde im Jahre 1940 ausgeliefert und war bereits im April 1939 durch den damaligen Außenminister des Deutschen Reiches, Joachim von Ribbentropp bestellt worden. Das geschah übrigens gleichzeitig mit der Bestellung einer weiteren 770 Pullman-Limousine mit Schiebedach. Diese beiden Wagen waren aber nicht die ersten Mercedes-Benz Fahrzeuge von Ribbentropp. Schon als Sonderbotschafter in London verfügte er über einen 770 W07 als Pullman-Limousine sowie ein 540 K Cabriolet C. Für manch ewig Gestrigen sind diese Wagen dadurch mehr wert und für manch Anderen gehören sie zerschlagen. Aber sie sind ein Teil der Geschichte und selbst wenn sie, so wie dieser Wagen, weitgehend unberührt Jahrzehnte lang in
amerikanischen Museen als „Hitler-Wagen“ propagandiert wurden, sind sie stilistisch und technisch die besten Fahrzeuge ihrer Zeit — und für diese Zeit können die Wagen nun wirklich nichts.

Unser spezieller Dank geht nochmals an das Auto- und Technik-Museum Sinsheim.