Aus der Clubzeitung: Mercedes Typ 10/20 PS

Gesprengte Ketten

von Jörg Enger aus der MVC Depesche 01/2010

Zwar haben Benz und Daimler unabhängig voneinander die ersten Automobile entwickelt. Dennoch gab es in der langen Geschichte der beiden Firmen, sowohl vor als auch nach deren Vereinigung, häufig Zeiten, wo man sich von neuen Techniken und Entwicklungen fern hielt. Positiv formuliert könnte man sagen, dass erst die Erfahrungen bei anderen Firmen verifiziert und ausgewertet werden sollten, bevor man seine eigene Kundschaft damit behelligte. Genau an einem solchen Wendepunkt setzen wir mit dieser Geschichte ein . . .

Was passiert, wenn man in die Fußstapfen eines großen Geistes tritt? Entweder, man merkt, dass diese zu Groß sind, oder man füllt sie so gut man kann. Nun war unser Nachfolger nicht irgendjemand, er war der Sohn des Firmengründers und er hatte viel von seinem Vorbild, dem König der Konstrukteure gelernt. Schon seit Kindertagen war Paul Daimler mit seinem Vater und dessen langjährigen Begleiter Wilhelm Maybach zusammen gewesen und er hatte sich von dem schlanke Herrn mit der Runden Brille so einiges abgeschaut.

Er war vernarrt in Technik. Bereits im Alter von nur 16 Jahren unternahm er die weltweit erste Fahrt mit einem Motorrad von Cannstatt nach Untertürkheim. Freilich war der sogenannte Reitwagen nicht das, was wir heute darunter verstehen, aber 1885 muss das den Passanten wir eine Höllenmaschine vorgekommen sein. Spätestens hier hatte er „Blut geleckt“. Er studierte an der Technischen Hochschule in Stuttgart um direkt danach im „väterlichen“ Betrieb mit zu arbeiten. Aber nicht in der Firmenleitung, sondern im Konstruktionsbüro. Das war es, was Paul wirklich wollte. Probleme entdecken und lösen war schon zu seiner Leidenschaft geworden. Trotz aller Wirrungen mit der Firmenleitung, in der ein Ständiger Machtkampf zwischen Gottlieb Daimler, Max Duttenhöfer und Wilhelm Lorenz vorlag, blieb er zunächst im Unternehmen. Erst 1902, zwei Jahre nach dem Tode seines Vaters, übernahm er die technische Leitung von Austro-Daimler, deren persönlich haftender Gesellschafter er war. Seine Verbindung nach Stuttgart riss aber nicht ab. Es muss ihn sehr geschmerzt haben, als sein großes Vorbild Wilhelm Maybach kontinuierlich ausgebootet wurde. Trotz einer Intervention von Emil Jellinek, dem Vater des Markennamens „Mercedes“, wurde Maybach von der Konstruktionsabteilung in ein „Erfinderbüro“ abgeschoben. Seine Motoren und die neue Überlegung, den Kettenantrieb zu verabschieden,  fanden bei Lorenz keine Gegenliebe. Am 15 Februar verließ er das Unternehmen und wurde umgehend durch Paul Daimler ersetzt. Dieser hatte sich seine Position jedoch so abgesichert, dass viele der Ziele Maybachs weiterverfolgt werden konnten – besonders der Kardanantrieb.

In späteren Jahren gelang es Paul Daimler noch weitere mechanische Geräusche-Macher zu eliminieren, doch das soll jetzt nicht das Thema sein. Maybach hatte schon sehr erfolgreich den Simplex-Motor eingeführt und dessen Konstruktion so weit Verbessert, dass der kleinste Mercedes-Wagen jener Zeit mit 10/20 PS daher kam. Zwar hatte sich die Technik schon wieder stark gewandelt, doch das äußere Erscheinungsbild war häufig noch an die Kutschen angelehnt. Da man aber noch nicht über das nötige Wissen und die technischem Möglichkeiten verfügte, änderte sich dies nur schleppend. Besonders die Höhe der Fahrzeuge und der damit  zusammenhängende hohe Schwerpunkt waren dem Konstrukteur ein Dorn im Auge.

Seit Jahren verlangte Emil Jellinek nach schnelleren Wagen, die er unter dem Namen seiner Tochter „Mercedes“ zu Rennen anmeldete. Mittlerweile hatte sich dieses Synonym für die Personenwagen aus DMG-Produktion so weit durchgesetzt, dass die Wagen ein eigener Nimbus umgab. Die Firmenleitung unter dem mittlerweile „geadelten“ Max von Duttenhöfer und Wilhelm Lorenz verboten aber wirkliche technische Innovationen – zumindest bei den großen Modellen. Dieses Schlupfloch hatte Maybach erkannt und ließ seine kreativen Ideen zunächst in die kleinen Wagen einfließen. Dabei entstand ein Triebwerk mit stehenden und hängenden Ventilen. Der Hub dieses Motors war über 150% gegenüber der Bohrung und stand damit im krassen Gegensatz zur  Simplex-Konstruktion wo sich Bohrung und Hub um weniger als 10% unterschieden. Inspektionsintervalle von drei bis vier Wochen, spätestens aber nach 4000 km waren damals Revolutionär. Auch dass erst nach 10-15.000 km neue Ventile eingezogen werden mussten, war eine deutliche Verbesserung. Dass dies nicht allein aus der Konstruktion, sondern auch der material– und verarbeitungstechnischen Entwicklung herrührte, wollen wir hier nicht verschweigen. Auf jeden Fall wurde also die Lebensdauer des Triebwerks erhöht und desgleichen sollte nun auch mit dem Fahrwerk geschehen. Währen die größeren Mercedes-Typen immer noch Kettenantrieb hatten, hatte Maybach sich für eine längst bekannte, aber bei DMG nicht praktizierte, Kardan-Lösung entschieden.

Diese Konstruktion sollte direkt zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Erstens sollte das grauslige „Kettenrasseln“ damit vermieden werden und zweitens sollten die Rad– und Federaufhängung eine deutliche Schonung erfahren. Mittels zweier Schubstreben von der hinteren Radaufhängung zum Getriebegehäuse bzw. zum Wagenrahmen wurde jetzt der Vorschub ohne Last für Kardanwelle (oder wie man damals vornehm französisch „Cardanwelle“ schrieb) noch irgendwelcher Belastungen für die Hinterfedern übertragen. Dass sich dieses Prinzip durchsetzte war für kluge Köpfe abzusehen – für die Schlauen in der Geschäftsführung war das aber zu risikoreich. Für die großen und starken Modelle wurde deshalb auch auf Drängen der Chefs am Kettenantrieb festgehalten.

Wilhelm Maybach wurde wieder einmal in seinem Vorwärtsdrang beschränkt. Bals schon wurde diese Einschränkung (heute würde man es „Mobbing“ nennen) so stark, dass es das Unternehmen verließ. Doch auch sein Nachfolger Paul Daimler teilte dessen Meinung zum Fortschritt und zur technischen Verbesserung.  Besonders die Geräuschreduzierung lag auch ihm am Herzen. Aus diesem Grund befürwortete er etwas später die Einführung der Schiebermotoren nach Knight-Prinzip.

In der laufenden Produktion des ursprünglich 15/20 PS genannten Typs 10/20 PS erlaubte er sich immer mehr kleine Verbesserungen einzufügen. Was heute Modellpflege heißt, wurde damals ohne Aufhebens geändert. So steigerte man bald schon die Leistung auf 25 PS, führte eine Doppelkonus-Kupplung mit Lederbelag für sanfteres Anfahren statt der bisherigen Federband-Kupplung ein und elektrifizierte die Wagen. Damit kam zunächst die Doppelzündung mit Magnet-Abriss und Batterie-Zündung zum Tragen sowie eine elektrischen Beleuchtung. Im letzten Baujahr 1915 setze sich der elektrische Anlasser durch, der seit drei Jahren bereits in alle Cadillac–Modelle eingebaut wurde.

Unser Fotomodell zu diesem Bericht wurde damals 1909 nach England geliefert. Es ist übrigens das erste Baujahr, das offiziell mit dem bis heute berühmten Stern versehen war. Erst im Juni 1909 beantragte nämlich die DMG den Gebrauchsmusterschutz für den Dreizack. Als eingetragenes Warenzeichen gibt es den Stern erst ab 1911. Vorher kamen die DMG-Wagen seit 1900 mit der Wortmarke Mercedes auf den Markt.

Die originale Karosserie dieses Wagens ist leider verschollen und die Briten entschieden sich für diesen Raceabout-Aufbau, der allerdings mit dem originalen Karosserieschild und dem Händler-Schild von Milners-Daimler-Mercédès Ltd. versehen ist. Zur besseren Handhabung und um diversen Einschränkungen der Nutzung zu entgehen, wurde auch dieser 1909 10/20 PS nachträglich mit elektrischem Licht ausgestattet. Da aber dieser „kleine“ Mercedes eine derartige Seltenheit ist, tut das der Faszination keinen Abbruch. Der heutige Besitzer liebt und fährt diesen Wagen bei vielen möglichen Gelegenheiten.

„Der frische Wind, der einem bei diesem Automobil um die Nase weht, bietet einen unglaublichen Spaßfaktor“, erklärt der Mittfünfziger mit leuchtenden Augen. Echte Enthusiasten wissen, wovon er spricht.



Was 1909 noch geschah

  • Das Deutsche Reich erkennt den status-quo in Marokko an, erreicht aber wirtschaftliche Gleichstellung mit Frankreich.
  • Die bosnische Annexionskrise wird beigelegt unter Brüskierung Rußlands; Serbien demobilisiert, der russische Außenminister tritt zurück.
  • Rußland und Italien schließen Geheimvertrag betreffend die Erhaltung des statusquo auf dem Balkan.
  • In den USA wird der bisherige Kriegsminister  William Howard Taft neuer Präsident.
  • Fritz Hofmann gelingt bei Bayer, Elberfeld die synthetische Herstellung von Kautschuk, eine Erfindung von militärstrategischer Bedeutung.
  • Der Franzose Louis Blériot fliegt mit einem Flugzeug in Ost-Westrichtung über den Ärmelkanal.
  • Die Firma General Electric startet die Vermarktung des ersten elektrischen Toasters.
  • Leo Baekeland bekommt den ersten massenhaft produzierten Kunststoff (Bakelit) patentiert.
  • Elektra von Richard Strauss wird uraufgeführt.
  • Alexej von Jawlensky malt ein Mädchen mit Pfingstrosen, Franz Marc einige blaue Rehe und Marc Chagall ein Bild vom Sabbat.
  • Der Forscher Ernest Shackleton entdeckt den magnetischen Südpol.
  • Robert Edwin Peary erreicht am 6.4. als erster Mensch den Nordpol, die wahre Geschichte bleibt jedoch im Dunkeln.
  • Der Reichskanzler von Bülow nimmt vor dem Reichstag zur bosnischen Annexionskrise Stellung und rechtfertigt die deutsche Haltung zu Österreich-Ungarn mit Nibelungentreue. Von Bülow tritt vier Monate später nach einer Abstimmungsniederlage zur Reichsfinanzreform zurück, neuer Reichskanzler wird Theobald von Bethmann-Hollweg.
  • Der Deutsche Flottenverein spricht sich für einen verstärkten Bau von Unterseebooten aus.
  • Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg nehmen am SPD-Parteitag teil.
  • Gründung der Deutschen Höheren Privatschule Windhoek in Namibia.
  • Der Postscheck feiert Premiere. Die Deutsche Reichspost führt mit ihm den bargeldlosen Zahlungsverkehr ein.
  • Die DELAG wird zur ersten Fluggesellschaft der Welt – sie betreibt Zeppeline.
  • Er gilt als erster Mensch, der den Nordpol erreicht haben soll. Fast noch wichtiger ist jedoch die Arbeit von Paul Ehrlicher. Er wendet erstmals die Chemotherapie an und liefert damit einen wichtigen Beitrag dazu, das Leben
    krebskranker Menschen zu verlängern oder gar zu retten.
  • Das erste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts war mehrfach von extrem schweren Erdbeben überschattet. Das größte erschüttert jedoch 1909 den Süden Italiens. 83-tausend Opfer sind nach diesem Beben zu beklagen. Ein Erdbeben der Stärke 7,3 im Iran fordert ca. 5.500 Tote .
  • Das Passagierschiff Republic gerät nach einer Kollision im Nebel mit einem anderen Schiff in Seenot und setzt den ersten ferntelegraphischen Notruf ab.
  • Filippo Tommaso Marinetti publiziert in der Pariser Zeitung Le Figaro sein futuristisches Manifest und gründet damit den Futurismus.
  • Die Queensboro Bridge über den East River wird für den Verkehr geöffnet. Sie verbindet die Stadtteile Manhattan und Queens in New York City.
  • Andrija Mohorovicic entdeckt, dass der Erdmantel eine größere Dichte hat als die Erdkruste. Die Grenze zwischen beiden wird nach ihm Mohorovicic-Diskontinuität genannt.
  • Ernest Rutherford charakterisiert die Alpha-, Beta- und Gammastrahlung.
  • Hans Geiger und Ernest Marsden untersuchen erstmals die Streuung von Alphateilchen an Atomen in dünnen Metallfolien mit der Szintillationsmethode.
  • Die Jungtürken stürzen im Osmanischen Reich Sultan Abdülhamid II., der im Amt von seinem Bruder Mehmed V. abgelöst wird.
  • In Mailand wird der erste  Giro d‘Italia gestartet, den später nach acht zurückgelegten Etappen Luigi Ganna gewinnt.
  • Eugène Schueller gründet die Société française de teinture inoffensives pour cheveux, aus der der Kosmetik-Konzern L’Oréal entsteht.
  • Der erste deutsche Richtertag findet in Nürnberg statt.
  • Gründung von Tel Aviv, der ersten modernen jüdischen Stadt auf dem Gebiet des späteren Staates Israel.
  • Gründung der SG Wattenscheid 09 und des Ballspielverein Borussia Dortmund.