- Schlüsselrolle innerhalb der passiven Automobilsicherheit
- Fahrer und Passagiere werden bei einem Aufprall im Sitz zurückgehalten
- Verschiedene Airbags sind ergänzende Rückhaltesysteme
- „33 Extras“: Exponate der Automobilkultur im Mercedes-Benz Museum
160 Fahrzeuge und insgesamt 1.500 Exponate präsentiert die vielfältige Dauerausstellung des Mercedes-Benz Museums. Ein besonderer Bestandteil sind die „33 Extras“: Sie lassen am Beispiel oft überraschender Details Mobilitätshistorie und Automobilkultur lebendig werden. Die Newsletter-Reihe Mercedes-Benz Museum Inside lenkt den Blick auf die „33 Extras“ und bringt ihre Geschichten auf den Punkt. In der heutigen Folge geht es um den Sicherheitsgurt.
23/33: Der Sicherheitsgurt
Sicherheit mit einem Klick: Einfach ausrollen, über Hüfte und Oberkörper ziehen und ins Schloss rasten lassen – das Anlegen des Sicherheitsgurts ist für Autofahrer und Passagiere vor dem Start des Fahrzeugs ganz selbstverständlich. Die Funktion ist so einfach wie wirkungsvoll: Bei einer Kollision fixiert der typische Dreipunktgurt das Becken im Sitz und hält den Oberkörper zurück. Damit spielt er eine Schlüsselrolle im umfangreichen System der passiven Sicherheit des Automobils. Denn in der Zeit vor dem Gurt gibt es viele schwere Verletzungen bei Unfällen, weil Menschen durch die Massenträgheit beim Aufprall ruckartig nach vorn oder zur Seite bewegt werden und sich unter Umständen an Interieur oder Karosserie stoßen. Die Wucht kann die Insassen gar aus dem Fahrzeug schleudern. Der Sicherheitsgurt verbessert diese Situation erheblich.
Debüt im Supersportwagen der 1950er-Jahre: Im Mercedes-Benz 300 SL Roadster (W 198) hat der Sicherheitsgurt bei der damaligen Daimler-Benz AG Premiere. Im März 1957 stellt das Unternehmen den offenen Supersportwagen auf dem Genfer Auto-Salon vor und kündigt den Sicherheitsgurt an. Dieser ist noch im gleichen Jahr auf Wunsch lieferbar. Je Sitz kostet die Sonderausstattung damals 110 DM. Das Rückhaltesystem wird 1957 als „Gurt zum Anschnallen, Flugzeugbauart“ beschrieben: Es handelt sich um einen Zweipunktbeckengurt, wie man ihn auch aus Passagierflugzeugen kennt. Eine solche Ausführung des norddeutschen Herstellers Autoflug zeigt das Mercedes-Benz Museum in der Serie der „33 Extras“.
Vordenker aus Frankreich: Schon frühe Automobilerfinder stellen Überlegungen zum Sicherheitsgurt an. Der Franzose Gustave-Désiré Leveau meldet am 11. Mai 1903 seine „Bretelles protectrices pour voitures automobiles“ zum Patent an, das ihm am 8. Oktober desselben Jahres erteilt wird. Die Patentzeichnung zeigt einen aufwendigen Vierpunktgurt, den sowohl der Fahrer als auch die Passagiere vorn und im Fond angelegt haben. Das Rückhaltesystem besteht jeweils aus einem Beckengurt und zwei sich kreuzenden Schultergurten. Die Darstellung des rasant fahrenden Automobils aus der Patentanmeldung mit der Nummer FR331926 passt zur damals in Frankreich herrschenden Begeisterung für die neue Form der Mobilität.
Anleihe beim Flugzeug: Entwickelt wird der Sicherheitsgurt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem für Verkehrs- und Militärflugzeuge. Aus der Flugzeugindustrie kommt auch der schwedische Ingenieur Nils Ivar Bohlin, der 1958 den Dreipunktgurt für das Automobil zum Patent anmeldet. Das Deutsche Patentamt zitiert in der Übersetzung aus Bohlins Patentanmeldung die Vorzüge des Systems, das „sowohl den Oberkörper wie auch den Unterkörper in physiologisch günstiger Weise festhält und leicht an- und abkuppelbar ist“.
Breites Angebot: Ebenfalls 1958 führt Mercedes-Benz den Zweipunktgurt als Sonderausstattung für sämtliche Personenwagen im Programm mit vorderen Einzelsitzen ein. Für einen Mercedes-Benz 220 S (Baureihe W 180) kostet er beispielsweise 120 DM und im 300 d (W 189) 150 DM (jeweils pro Sitz). Ende des Jahres sind dann auch Beckengurte an den Fondsitzen als Sonderausstattung lieferbar. Selbst Konrad Adenauer lässt sich vom neuen System überzeugen. Der Dienstwagen des ersten deutschen Bundeskanzlers erhält im Fond einen Beckengurt. Sein letzter von insgesamt sechs „Adenauer-Mercedes“ genannten Mercedes-Benz 300 steht im Mercedes-Benz Museum im Raum Collection 4: Galerie der Namen.
Rennen und Rallye: Ab den 1950er-Jahren sind auch im Motorsport immer mehr Rennwagen mit einem Sicherheitsgurt ausgestattet. Heute haben Wettbewerbsfahrzeuge meist Vier- oder Sechspunktgurte. Dazu kommen mit dem Sicherheitsgurt verbundene Systeme wie HANS. Dieser „Head and Neck Support“ reduziert die gefährliche Beschleunigung des Kopfes bei einer Kollision.
Drei Punkte und Automatik: In den 1960er-Jahren setzt sich der Dreipunktgurt endgültig als Standard in Personenwagen durch. Er verbindet – wie von Bohlin 1958 beschrieben – die Vorteile des Becken- und des Schultergurts. Durch eine Aufrollfunktion ergänzt, wird das Rückhaltesystem zum Automatikgurt. Diese Version führt Mercedes-Benz im Jahr 1973 als Serienausstattung auf den Vordersitzen ein, ab 1979 auch auf den Rücksitzen. Aber nicht nur auf die Gurtausführung kommt es an, sondern auch auf seine Befestigung: Mercedes-Benz liefert den 1971 vorgestellten SL der Baureihe R 107 serienmäßig mit einem unten am Sitz verankerten Sicherheitsgurt aus.
Gurtpflicht: Die Unfallforschung beweist klar die Wirkung des Sicherheitsgurts. Daher schreiben ihn viele Länder in neu zugelassenen Fahrzeugen vor. In den Vereinigten Staaten von Amerika gilt das beispielsweise ab 1966 und in der Bundesrepublik Deutschland ab 1974. Doch längst nicht alle Fahrer und Passagiere legen den Gurt auch an. Deshalb wird eine entsprechende Pflicht erlassen, gegen die sich vor allem am Anfang großer Widerstand regt. Im deutschsprachigen Raum geschieht das für die Vordersitze 1976 (Bundesrepublik Deutschland und Österreich), 1980 (DDR) und 1981 (Schweiz, nachdem eine erste Pflicht 1976 wegen Protesten ausgesetzt und eine Volksabstimmung abgehalten wird). Um die Gurtpflicht durchzusetzen, erlassen die Länder wenig später auch entsprechende Geldbußen, nämlich 1981 (Schweiz), 1982 (DDR) und 1984 (Bundesrepublik Deutschland und Österreich). In der Europäischen Union gilt seit 2006 eine bußgeldbewehrte Gurtpflicht.
Forschung für die Sicherheit: Mercedes-Benz forscht seit den 1950er-Jahren intensiv zur passiven Sicherheit und damit auch zu Rückhaltesystemen, beispielsweise im Rahmen des Programms der „Experimental Safety Vehicles“ (ESV). Bereits 1972 werden im Experimental-Sicherheits-Fahrzeug ESF 13 selbstanlegende Sicherheitsgurte für die Frontsitze erprobt. Im ESF 22 aus dem Jahr 1973 testet die Marke Dreipunktgurte mit drei Kraftbegrenzern, Gurtstraffer sowie den Fahrerairbag. 1981 hat der Fahrerairbag in Verbindung mit einem Sicherheitsgurt mit Straffersystem Serienpremiere in der S-Klasse der Baureihe 126. Das ESF 22 zeigt das Mercedes-Benz Museum im Raum Mythos 5: Vordenker – Sicherheit und Umwelt.
Systemgedanke: Gurtbringer, Gurtstraffer und Airbag, Beltbag – weitere Lösungen ergänzen mit den Jahren das System. Dabei gilt der Sicherheitsgurt als das primäre Rückhaltesystem. Früher steht deshalb „SRS“ auf Airbag-Lenkrädern, eine Abkürzung für „Supplemental Restraint System“ („ergänzendes Sicherheitssystem“). Und wenn Gurt und Airbag eins werden? 2013 hat beispielsweise der Beltbag im Fond der S-Klasse der Baureihe 222 Premiere: ein aufblasbarer Sicherheitsgurt, der die Auflagefläche auf dem Oberkörper erheblich vergrößert.