Erinnerungen an eine verflossene, sorglose Zeit.
- “Also es war so, Herr Vorsitzender, ich fuhr gemütlich entlang der Fernstraße, und plötzlich sah ich im Rückspiegel eine Staubwolke, die auf mich zuraste, und dann überholte mich der Wagen, so mit ungefähr 60 bis 70 Meilen/Std (ca. 95 bis 115 km/Std). Ich war mir sicher, irgendetwas würde passieren, konnte aber nur sehen, was tatsächlich passiert war, als der Staub sich verzogen hatte….“
- „Und, was haben Sie dann gesehen?“ fragte der Staatsanwalt.
- „Tja, da war er nun, der Wagen, im Graben lag er! Aber nachdem der Mercedes aus dem Graben herausgezogen worden war, fuhr er gleich mit vollem Tempo wieder weg”.
- “Ja, und was war dann?“
- „Nun, entschuldigen Sie mich bitte, wenn ich grinsen muss, Herr Staatsanwalt, ich fuhr auch weiter, und was sah ich hinter der nächsten Kurve? Genau! Da lag er doch tatsächlich wieder im Graben. Das musste ja so kommen, er fuhr einfach viel zu schnell!“
- „Zeuge Thomas Morcom, war Ihrer Ansicht nach der Angeklagte nüchtern?“
- „Oh, ja, Herr Vorsitzender, das war er, der war stock nüchtern.“
Zur Verhandlung war der Angeklagte, Royal Navy Unterleutnant Home Kidston, nicht erschienen, noch war er durch einen Verteidiger vertreten. Der Staatsanwalt, Feldwebel Petersen, meinte, dass der Angeklagte vermögend sei, und dass in seinem Fall eine Geldbuße keine abschreckende Wirkung haben würde. In seinem Urteil erklärte dann der Vorsitzende des Gerichts in Blenheim (Neuseeland), Mr. T.E. Maunsell (Senior Magistrate) abschließend, dass Unterleutnant Kidston, z.Z. auf Landurlaub von seinem Schiff „H.M.S. Diomede“, wie eine gesengte Sau führe. Er, der Richter, würde es nicht dulden, dass in dieser rücksichtslosen Art durchs Land gefahren würde, und verdonnerte Kidston zu einem Strafgeld, das, wie damals der Zeitungsbericht erwähnte, „einer arbeitslosen Durchschnittsfamilie mehrere Monate lang ein Leben im Luxus erlauben dürfte.“ Zusätzlich wurde der Führerschein des Unterleutnants für zwei Jahre einbezogen. (Der obige Text wurde lose aber sinngemäß authentisch von einem zeitgenössischen Neuseeländischen Zeitungsbericht übersetzt).
Es war nicht das erste Mal, dass Home Kidston bereits innerhalb der ersten Monate seiner Stationierung in Neuseeland ein Strafgeld wegen übermäßiger Geschwindigkeit bekommen hatte. Zweimal zuvor war er bereits auf seiner Tour quer durch Neuseeland angehalten worden. Kaum war er losgerast, bekam er schon seinen ersten Strafzettel mit einem Bußgeld von 5 Pfund (die Kaufkraft eines einzigen engl. Pfund Sterling von 1930 entspräche heute 2014 je nach Tageskurs etwa 47,30 £ bzw. 60,34 €). Als Kidston das Flachland der südlichen Insel erreichte, ließ er die Pferde – schließlich standen ihm ja einige zur Verfügung – so richtig los. Prompt kam bei Kaiapoi der nächste Strafzettel, diesmal – nur – über 3 Pfund. Und dann kam eben der dritte Vorfall, auf der Strecke Blenheim-Picton, und der brachte ihm das Gerichtsverfahren in Blenheim ein….mitsamt Führerscheinentzug.
Aber unser übermütiger dreiundzwanzigjähriger Unterleutnant hatte Verbindungen: Seinen Führerschein bekam er Dank der Intervention der Admiralität der Royal Navy wieder zurück.
Holme Kidston hatte wohl Oktan im Blut, und seine, man möchte fast sagen Sucht nach Geschwindigkeit muss wohl irgendwie Bestandteil der Chromosomen der Kidston-Familie gewesen sein: Sein älterer Bruder Glen war Rennfahrer, er war auch einer der „Bentley-Boys“ (deren tagelang andauernde berühmt-berüchtigten Partys das Zeug von Legenden wurden!). Er gewann u.a. 1930 mit seinem Co-Piloten Woolf Barnato in einem 6,6 –Liter Bentley „Speed Six“ das achte „24 Std. von Le Mans“-Rennen, gegen die Bugattis und Alfa-Romeos, und gegen den einsamen Mercedes 710 SS von Rudi Caracciola und Christian Werner – der bereits nach 79 Runden ausschied.
Um so richtig die Zusammenhänge zu verdeutlichen, muss man verstehen, wer diese „Bentley Boys“ eigentlich waren. Es waren 17 reiche Playboys, gleichzeitig aber auch seriöse Motorsport-Enthusiasten, alle eingeschworen auf die Wagen der Firma Bentley, die einer von ihnen (Woolf Barnato) 1925 aufgekauft hatte, und die zwischen 1927 und 1930 alle vier Le Mans-Rennen gewannen und 1930 sogar die ersten 4 Plätze belegten. Einer der Reichsten unter ihnen, wenn nicht sogar der Reichste in dieser Gruppe war der 31-jährige Glen Kidston, Flieger, ehemaliger Royal Navy Korvettenkapitän, und eben auch Rennfahrer und älterer Bruder von Home.
Durch ihn und durch seinem zukünftigen Schwiegervater Lord Howe – ebenfalls ein Mitglied der „Bentley Boys“ – wurde Home Kidston zum Kauf seines Mercedes-Benz 680 S Sport/4 angeregt, und es ist eben dieser Wagen – zusätzlich zu seinem Rennboot und seinem De Havilland „Racing Moth“ Doppeldecker Rennflugzeug – den er, bzw. die er alle drei auf dem Schiff nach Neuseeland mitnahm, als er 1933 dorthin stationiert wurde.
Man kann mit einiger Berechtigung fragen, warum Home Kidston einen Mercedes, und keinen Bentley kaufte, Frage auf die man keine Antwort mehr bekommen wird. Tatsächlich hatten die „Bentley Brothers“ großen Respekt vor den Mercedes-Benz SS 710, und betrachteten sie als ihre gefährlichste Konkurrenz (besonders mit Rudolf Caracciola am Steuer). Vielleicht mag dies beim Kauf eine Rolle gespielt haben…Jedenfalls hatte Home Kidston’s neues Spielzeug, sein dunkelroter Mercedes 680 Typ S , zuvor schon eine kleine Rennkarriere hinter sich gebracht.
Die Geschichte dieses 680 S Sport/4 fängt nämlich am 16. Mai 1928 an, als das Fahrgestell mit der Nummer 35918 an die Mercedes Niederlassung R. Caracciola & Co. In Berlin, für Freiherrn von Loen abgeliefert wurde. Es ist nicht klar, ob der Wagen bzw. das Fahrgestell tatsächlich von Herrn von Loen abgenommen wurde oder nicht.
Dann kauft irgendwann Anfang 1929 ein Offizier der Englischen Besatzungsmacht im Rheinland den Wagen, führt ihn nach England ein, und am 18. Mai 1929, also gerade mal ein Jahr nach seiner Auslieferung in Berlin, gewinnt der Wagen, jetzt mit dem britischen Kennzeichen UU 2462 versehen, mit einem gewissen 25 Jahre alten Tom „Scrap“ Thislethwayte am Steuer – Playboy, Rennwagen-Enthusiast und Sohn reicher Ländereien-Besitzer und auch er Mitglied der „Bentley Boys“– in Southport im Nordwesten Englands den „Daily Dispatch Golden Vase“-Pokal.
UU2462 hat jetzt einen sogenannten „Van den Plas“-Aufbau (System Weyman), der sehr an die Sindelfinger Karosserien erinnert. Die Form ist nahezu identisch, allerdings ist die Holzgestell-Karosserie mit Kunstleder bezogen worden (Gewichtseinsparung?), die Türausschnitte sind tiefer als üblich, und die Räder des 680 Sport/4 haben nun auch einfache Schutzbleche statt Kotflügel.
Im gleichen Jahr 1930 erwirbt dann Home Kidston den 680 S Sport/4 über Lord Freddie March von dem oben genannten E. L. Mayer. Freddie March war ebenfalls ein erfolgreicher Rennfahrer, der viel später (1948) auf dem Land, das er 1935 erben wird, der Erbauer des Goodwood Motor Circuit und der Gründer der Goodwood Rennen sein wird.
Noch auf Station liegend, spricht Home Kidston mit einem Karosseriebauer, und gibt für seinen arg ramponierten Wagen eine Monoposto-Karosserie in Auftrag, die vage an den Mercedes-Benz W25 Grand-Prix Wagen erinnert, und weiß lackiert wird.
1937 geht es schliesslich zurück nach England, wo Kidston seinen Mercedes-Benz 680 S Sport/4 mit der nachempfundenen Grand-Prix Karosserie verkauft.
Ende der vierziger Jahre gibt es ein paar Verkaufsversuche, u.a. 1949 durch Sheriton Motors in Bournemouth, Dorset, England.
Im November 1950 wird in einer Anzeige der Wagen als „Mercedes-Benz Typ SS Fahrgestell“ mit neuer Karosserie, „aus familiären Gründen“ zum Verkauf angeboten, wobei Angebote von mindestens 300 Pfund – gleich 6730 GBP heute oder 8550 € – erwünscht seien, auch unter dem Hinweis, dass der Wagen zu der Zeit bei „Downton Engineering Works Ltd.“ in Downton, Wiltshire, restauriert würde, und dort besichtigt werden könne. Dem zukünftigen Eigentümer wird der Kauf zusätzlich damit schmackhaft gemacht, dass er mit dem Wagen auch noch einen Ersatzkompressor, ebenso durch die renommierte Londoner Firma „Laystall Motor Engineering Works“ überholte Bremstrommeln bekäme, und – last but not least – obendrein noch vier ganz neue Dunlop „Renova“-Reifen plus zwei Ersatzräder. Über solche runderneuerten Reifen hätte sich damals sicherlich jeder gefreut, auch in England, das noch stark an den wirtschaftlichen Folge-Erscheinungen des Krieges zu leiden hatte!
Es ist eher unklar, was mit dem Wagen, bzw. mit dem Fahrgestell in den darauffolgenden Jahren geschah. Bekannt ist, dass der Wagen 1968 eine neue Karosserie bekommt, und dass in den achtziger Jahren ein gewisser John König, Eigentümer der John Konig & Co. Weinhandelsgesellschaft in Stockbridge, West Hampshire, England, der Besitzer des Sportwagens ist. Am 20. Juni 1989 zeigt Mr. König den Wagen Home Kidston, der ihn als seinen identifiziert, den Wagen mit dem er in Neuseeland rannte.
Mitte der neunziger Jahre lässt Rudolf Geray den Wagen von der Dornberg Auto GmbH restaurieren. Gleichzeitig bekommt der Sport/4 einen neuen Aufbau, ein Nachbau der Sindelfinger Sport/4 Karosserie.
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Und nun zum Modell im Maßstab 1:43, das Ilario herausgebracht hat.
Text: Bernd D. Loosen – Aufnahmen: verschiedene Quellen.