Von der „privaten Spinnerei“ zum >Werks-Versuchswagen

Nach dem rasenden Interesse an dem in einer bekannten, weit-verbreiteten Autozeitung und diversen mehrseitigen Einträgen in verschiedenen Internet-foren, bekennt sich die Daimler AG nun endlich zu Ihrem Kind namens 190D BlueEFFICIENCY.

Der auf der Baureihe W201, genauer gesagt einem 190E 2.6 Sportline Bj.1992,  aufbauende Versuchsträger war: „kein echtes Schnäppchen„, erinnert sich Peter Lehmann schmunzelnd an den Kauf des Blauen. „Denn die Baureihe W 201 hat längst den Liebhaberstatus erreicht. Und dieses Exemplar aus dem Baujahr 1992 war besonders gut erhalten.“ Lehmann kennt sich aus mit 190ern: Der Ingenieur, der bei Mercedes-Benz für die Konstruktion und die Realisierung von Show Cars und Concept Cars verantwortlich ist und den Umbau in Sindelfingen leitete, besitzt privat gleich drei 190er, von der Einstiegsversion mit der genügsamen 1,8-Liter-Maschine bis zum potenten Evo-Modell. Zum kleinen Team, das binnen eines Jahres das neue Diesel-Herz in die alte 190er Karosse verpflanzte, gehörten zwei weitere ebenso eingefleischte Fans der Baureihe. Sie blieben mit ihrer Begeisterung nicht alleine: „Fast jedes Mal, wenn der 190er über Nacht in unserer Werkstatt stand, hing am nächsten Morgen ein Zettel dran, ob er zu verkaufen sei“, so Lehmann. War er aber nicht, und inzwischen ist er ein unbezahlbares Einzelstück.

Mit Bedacht wurde ein 190 E 2.6 für den Umbau ausgewählt: Der Sechszylinder wiegt ähnlich viel wie der moderne OM 651, womit die Gewichtsbalance zwischen Vorder- und Hinterachse weiterhin ausgeglichen bleibt. Außerdem war die Bremsanlage des einstigen 160-PS-Modells schon ausreichend groß dimensioniert, um auch Hundertschaften moderner Diesel-PS in Zaum zu halten. Als Sportline-Ausführung besaß dieser 190er zudem schon die passende Fahrwerksabstimmung, das sportlich-straffe Set-Up konnte daher unverändert bleiben.
Im normalen Berufsalltag blickt das Umbau-Team mit Konzeptfahrzeugen weit in die mobile Zukunft. Diesmal war jedoch Vergangenheitsbewältigung angesagt. Erste Herausforderung: Vom 190er existieren noch keine CAD-Daten. Also wurden wie früher zunächst die Zeichnungen von Motorraum und Aggregat auf Transparentpapier gepaust und übereinander gehalten. Da alles halbwegs zu passen schien, wurde die Karosserie nachvermessen. Diese Messwerte wurden dann mit dem Datensatz des Motors zusammengeführt, um vermeintliche Kollisionspunkte zu finden. Und Packaging-Probleme gab es in der Tat. Die Lenkung wäre durch die Ölwanne gegangen. Doch die Lösung fand sich bei den Nutzfahrzeug-Kollegen: Die Ölwanne vom Mercedes Sprinter passte. Damit waren die Anpassungsarbeiten aber noch nicht abgeschlossen: Für das
aktuelle Sechs-Gang-Getriebe musste der Mitteltunnel des 190ers geweitet werden. Und beim Hinterachsdifferential half wiederum der Griff ins Ersatzteilregal: Das Differenzial der 3,2-Liter-Version des W 203, also des Vorgängers der aktuellen C-Klasse, passte.

„Die größte Herausforderung bei diesem Projekt waren aber nicht die Hardware-Arbeiten, sondern die Elektronik„, betont Peter Lehmann. Denn das Datenübertragungssystem CAN-Bus gab es beim 190er noch nicht. Und bei der aktuellen C-Klasse und ihrem modernen OM 651-Motor kommunizieren ständig über ein Dutzend Steuergeräte miteinander, um ihre Aufgaben aufeinander abzustimmen. Ohne entsprechende Signale kein Start: Denn das elektronische Zündschloss EZS ist unter anderem das Bindeglied zwischen Motor-CAN-Bus und Innenraum-CAN-Bus. Die pfiffige Idee der Väter des 190 D BlueEFFICIENCY: Sie gaukeln dem Motor einfach vor, dass er sich auf einem Prüfstand befindet. Entsprechende Signale liefert ein Elektronikkasten im Kofferraum, gut zwei Schuhkartons groß. Damit ließ sich der OM 651 zum Leben erwecken: Leise und kultiviert ging er unter der Motorhaube des W 201 zu Werke. Doch das Folge-Problem ließ nicht lange auf sich warten: Um wirklich fahren zu können, verlangte die Elektronik nach ABS-Signalen. Aber drehende Räder gibt es selbst auf virtuellen Motorprüfständen nicht. Also mussten wieder die Elektronikspezialisten ran – auch die ABS-Signale werden jetzt simuliert.

Das Fahrerlebnis ist wirklich einzigartig„, schwärmt Lehmann. „Der moderne Diesel hat mit dem 190er leichtes Spiel. So ein bärenstarker Durchzug war seinerzeit einfach unvorstellbar, ebenso der verblüffend niedrige Verbrauch.“ Und noch von einigen anderen Dingen wie digitalem Tacho oder Vier-Kanal-ABS hätten die Entwickler des W 201 Ende der 70er Jahre nicht zu träumen gewagt. „Mit seinem schnörkellosen Design wirkt der 190 bis heute zeitlos, und er fährt auch sehr anständig. Trotzdem war beim Umbau der gewaltige technische Fortschritt im Automobilbau der letzten drei Jahrzehnte immer allgegenwärtig“, fasst Lehmann zusammen.

Und was bringt das Ganze? Wenn das Gaspedal gedrückt wird ist der Fortschritt spürbar: Ausgerüstet mit 150 kW/204 PS, zeigt der Mercedes 190 D BlueEFFICIENCY das ganze Potenzial seines neuen Vierzylinder-Dieselmotors. Mit einem maximalen Drehmoment von 500 Nm im Bereich von 1.600 bis 1.800 /min hat das Experimentalauto mehr als doppelt so viel Kraft wie das seinerzeit stärkste Modell der Baureihe W 201. Der 190 E 2.5-16 Evolution II bringt es „nur“ auf 245 Nm.
Die Idee für das ungewöhnliche Experimentalfahrzeug entstand bei einer abendlichen Diskussion über die enorme Entwicklung der Diesel-Technologie in den letzten 20 Jahren. Die Frage lautete: „Wie könnte man diesen Fortschritt wirklich erlebbar machen, isoliert von den ebenfalls tiefgreifenden Veränderungen bei Sicherheit und Komfort des Gesamtfahrzeuges?“ Das Ergebnis: Werkstuning einmal anders: der 190 D BlueEFFICIENCY. Er beschleunigt in 6,2 Sekunden von 0 auf 100 km/h. Damit bewältigt er den Standardsprint 11,9 Sekunden schneller als ein zeitgenössischer 190 D, der bei seiner Vorstellung 1983 mit seinem neu entwickelten, vollgekapselten Aggregat als „Flüsterdiesel“ Furore machte.
Noch beeindruckender sind die Unterschiede zwischen beiden Dieselgenerationen im Verbrauch: Trotz des deutlichen Leistungszuwachses von 72 (OM 601, 1988) auf 204 PS (OM 651, 2009) verbraucht der neue in der alten Karosserie 4,9 Liter auf 100 Kilometer im NEFZ-Zyklus, statt 7,3 Liter anno 1988.
Wirklich erstaunlich aber ist, dass sich der aktuelle C 250 CDI BlueEFFICIENCY gemessen nach der zu Zeiten des 190 D geltenden DIN-Norm im Drittelmix mit 4,6 Liter auf 100 Kilometer begnügt, im aktuellen NEFZ-Fahrzyklus sind es 5,1 Liter auf 100 Kilometer. Das ist eine Verbesserung um rund 30 Prozent – ganz zu schweigen von den Abgaswerten.