Oktober ’93: Als die Zukunft durch den Berliner Kreisel fuhr

von Tarek Abu Ajamieh (Text und Foto) / Hildesheimer Allgemeine Zeitung

Autonom fahrende Autos sind aktuell ein großes Thema bei Automobilindustrie und Zuliefer-Betrieben. Das Unternehmen Bosch jedoch schickte schon vor 25 Jahren Testfahrzeuge durch Hildesheim. Doch damals war die Zeit offenbar nicht reif – was Beteiligte bis heute ärgert.

Langsam rollt der Kleintransporter auf den Berliner Kreisel. Durch die Fenster der Fahrerkabine sind Bäume zu erkennen, vertraute Ausfahrten huschen vorbei. Doch viel fesselnder als der Blick nach draußen ist der nach innen. Denn die Kameras erfassen auch den Fahrer des Wagens. Der liest mal in einem Buch und guckt mal aus dem Fenster. Doch das Lenkrad fasst er nicht an. Es dreht sich von selbst, leicht ruckartig, und hält das Fahrzeug in der Spur des Kreisels. Kurz wechselt der Film in die Totale. Der Transporter ist zu sehen, dicht dahinter ein Polizeiwagen, dahinter weitere Autos. Auf dem Grünstreifen am Kreisel rückt plötzlich ein Mann im Anzug ins
Bild, der applaudiert.

Gert Siegle sitzt auf seiner Terrasse an seinem Haus in Ochtersum und lehnt sich zurück. Vom nahen Wildgatter tönt Kindergeschrei herüber, im Garten piept eine Amsel. Und auf dem Laptop auf dem Terrassentisch läuft der Film weiter, den Siegle gerade angestellt hat. Der Streifen zeigt etwas, was in der Automobilbranche derzeit als Megathema der Zukunft gilt. Autonomes Fahren. Einen Wagen, der sich selbst seinen Weg sucht, dessen Fahrer nur noch im Notfall eingreifen muss und der sich ansonsten entspannt zurücklehnen kann.

Das Besondere an dem Film: Er stammt von Oktober 1993. „Viele denken ja, nur Google kann sowas erfinden …“, sagt Siegle und überlässt den Rest des Satzes der Fantasie des Zuhörers. 25 Jahre ist es her, dass Bosch in Hildesheim ein selbstfahrendes Auto auf die Straße schickte, um zu testen, wie das Ganze wohl in der Praxis funktionieren würde. Erdacht hatte das Ganze ein gemeinsames Team des Automobil-Zulieferers und des Fraunhofer-Instituts, im Hildesheimer Wald wurde es maßgeblich vorangetrieben. Vor 25 Jahren. 

Helmut Kohl war Bundeskanzler, Berti Vogts Bundestrainer, gerade hatten Rabin und Arafat den Friedensvertrag
zwischen Israel und der PLO unterzeichnet.

Eine andere Filmsequenz zeigt den Kleintransporter auf einer Schnellstraße in Baden-Württemberg. Sie ist noch nicht für den Verkehr freigegeben, Bosch darf deshalb dort testen. Der Wagen nimmt die Auffahrt, demonstriert dann sein Können: Spurwechsel. Alles klappt tadellos. Damals, 1993.

Und heute? Baut das Land Niedersachsen gerade mit großem Aufwand eine Teststrecke für autonom fahrende Autos auf. Ab 2020 sollen sie probehalber zwischen Hannover, Braunschweig und Hildesheim sowie durch den südlichen Landkreis rollen. Testphase, immer noch.

Was ist nur passiert in all den Jahren? Oder nicht passiert? Waren Siegle und seine Mitstreiter – als führenden Kopf nennt der promovierte Physiker seinen damaligen Kollegen Wolf Zechnall – mit ihrer Innovation zu früh dran? Der 79-Jährige atmet tief ein: „Nehmen Sie es mir nicht übel, aber das ist die dümmste Frage überhaupt!“ Man nimmt es ihm nicht übel. Siegle ist ein freundlicher älterer Herr, der viel lächelt, dem Verbitterung fremd scheint. Aber zu früh? „Wie kann eine Verbesserung zu früh kommen. Andere waren zu
spät!“

Andere, das sind für ihn Staat und Gesellschaft. Die seien damals nicht offen gewesen für das Konzept eines
Autos, das selbst fährt. Die Länder Europas haben sich 1968 im Wiener Abkommen auf grundlegende Regeln
für den Straßenverkehr verständigt. Der für Siegle entscheidende, aus seiner Sicht, fatale, Passus: „Jeder Führer muss dauernd sein Fahrzeug beherrschen oder seine Tiere führen können.“ Siegle zelebriert die Formulierung. Die Botschaft ist klar: Bei Bosch entwickeln sie das autonome Autofahren, die Politik denkt noch an Pferdekutschen.
Tatsächlich sollte das automatisierte Fahren erst 2016 ins Abkommen aufgenommen und unter Bedingungen gestattet werden.

Dass das so lange dauern würde, können sich Siegle, Zechnall und Co. Anfang der 90er-Jahre kaum vorstellen. Unter den Ingenieuren und Physikern bei Bosch und Fraunhofer herrscht Aufbruchstimmung. Gerade hat der Automobilzulieferer sein in Hildesheim entwickeltes Navigationssystem „Travelpilot“ auf den Markt gebracht. Erste elektronische Lenkhilfen kommen auf, auch Mobiltelefone. „Die Elektronik entwickelte sich und wurde immer leistungsfähiger“, sagt Siegle. „Also begannen wir, über Fahrer-Assistenzsysteme nachzudenken.“ Die Kernfrage: Wie kann sich ein Auto selbstständig auf der Straße halten? Und das, ohne auf andere Fahrzeuge aufzufahren? 

„Wir hatten zunächst Lastwagen auf Autobahnen im Fokus“, erinnert sich Siegle. „Und ich bin bis heute überzeugt, dass es dort am meisten Sinn macht und man dort anfangen sollte.“ Schließlich seien Autobahnen die einfachsten Strecken: „Keine Ampeln, kein Querverkehr, keine spielenden Kinder – dafür lange, gerade Strecken.“ Und die ließen sich effizienter nutzen. Automatisch fahrende Lastwagen, die alle im gleichen Tempo unterwegs sind, könnten dichter hintereinander fahren, pro Stunde könnten deutlich mehr Fahrzeuge eine Strecke passieren, und die Fahrer würden deutlich entlastet. „1998 hätte das in Deutschland starten können“, ist Siegle überzeugt.

Für die Lastwagen sprechen vor 25 Jahren allerdings auch noch andere, ganz praktische Aspekte. Die Technik, die Siegle und Co. im Fahrzeug unterbringen müssen, würde in ein Auto kaum hineinpassen. Kameras groß wie Kaffeepakete, riesige Rechner, eine eigene Stromversorgung im Laderaum. Was heute in ein Handy passt, braucht damals mindestens den Beifahrersitz. Doch für Siegle war etwas anderes entscheidend: „Es hat funktioniert. Alles
andere ist dann nur noch Weiterentwicklung.“ Doch die bleibt aus. Wer soll ein System kaufen, das zwar funktioniert, im Straßenverkehr aber nicht erlaubt ist? Und so fahren in den nächsten Jahren allenfalls Mähdrescher und andere Landmaschinen vollautomatisch auf den Feldern herum: „Das ist ja Privatgrund“, sagt
Siegle. Und verfolgt, wie US-amerikanische Unternehmen sich ebenfalls mit autonomem Fahren beschäftigen,
Testfahrzeuge quer über den Kontinent rollen lassen. Und heute als Hort der Innovation gelten.

Also doch Verbitterung? „Nein“, versichert Siegle. Ihm gehe es bei der ganzen Geschichte um etwas anderes. Nämlich darum, dass US-Unternehmen wie Google nicht unbedingt schlauer oder innovativer seien als europäische Firmen. Sondern dass sie bessere Rahmenbedingungen hätten. „Wenn dort einer eine gute Idee hat, gibt man ihm viel Geld und sagt, mach mal. Schauen Sie, wie viel Kapital zum Beispiel Tesla bekommt.“ In 
Deutschland herrschten hingegen eher Bedenken vor, es gebe eine starke Fokussierung darauf, was nicht gehe. Und dann müsse man sich auch noch mit gut zwei Dutzend EU-Partnern verständigen.

In Hildesheim gibt es 1993 durchaus Unterstützung. Der Mann, der am Kreisel applaudiert, ist der damalige Stadtdirektor Walter Hoffmann. Er hat die Testfahrt durch die Stadt und um den Kreisel herum genehmigt, die örtliche Polizei sichert die Tour ab. Bosch genießt Vertrauen, Hoffmann selbst ist von der neuen Technologie fasziniert. Doch dass sie tatsächlich eingeführt wird, wird er nicht mehr erleben. Siegle und Zechnall werden sich in den folgenden Jahren weiter intensiv mit Sensorik, Steuergeräten und „dem Auto der Zukunft“ beschäftigen. Ihre Nachfolger denken das „Auto der Zukunft“ als mobiles Büro mit Internet, Fernsehen und allen anderen Kommunikationsmöglichkeiten. Bei Bedarf soll es allein ins Parkhaus, zum Tanken oder in die Werkstatt fahren. Sie wollen sich längst nicht mehr nur auf Autobahnen beschränken, sondern auch den Stadtverkehr mit all seinen Tücken und Unwägbarkeiten meistern. Ein wesentliches Element ist heute, dass die Autos auch untereinander elektronisch kommunizieren und so Informationen austauschen. Manches davon klingt heute so schwer fassbar, wie das autonome Fahren vielen im 1993 erschienen sein muss.

Siegles Segen haben sie: „Man muss Neues auch einfach mal anfangen. Vielleicht nur stückweise. Aber anfangen! Und nicht auf die Amerikaner warten.“


Der Stand der Dinge bei Bosch heute

Heute entwickelt Bosch zum einen das hochautomatisierte Fahren auf Autobahnen sowie zum anderen gemeinsam mit Daimler das voll automatisierte und fahrerlose Fahren in der Stadt.

Beim hochautomatisierten Fahren auf Autobahnen wird die Verantwortung vorübergehend an das Auto übergeben. Für diese Entwicklung ist Bosch seit Anfang 2013 mit Erprobungsfahrzeugen auch bereits auf der Autobahn 81 in Baden-Württemberg und der Interstate 280 in den USA unterwegs. Seit Anfang 2016 erprobt Bosch das automatisierte Fahren auch in Japan, seit Mai 2017 auch auf chinesischen Straßen.

Bosch und Daimler haben im April 2017 ihre Zusammenarbeit im Bereich des voll automatisierten und fahrerlosen Fahrens in der Stadt bekanntgegeben. Gemeinsam entwickeln die Unternehmen ein Fahrsystem. Damit sollen sich Fahrzeuge voll automatisch durch den Stadtverkehr bewegen können.

Ziel ist es, die Technik Anfang des kommenden Jahrzehnts in Serie zu bringen. In und um Hildesheim herum testet Bosch nicht, hiesige Mitarbeiter von Car Multimedia und dessen Tochtergesellschaft Bosch Soft-Tec sind aber an der Entwicklung beteiligt.